Dr. Norden Bestseller Paket 4 – Arztroman. Patricia Vandenberg
was, Sabine«, sagte Manfred, wenn sie diese Gedanken äußerte. »Er will sie uns doch nicht wegnehmen.«
»Doch, das möchte er am liebsten. Er hat es ja schon gesagt.«
»Es ist so ein Wunschgedanke, der keine Wurzeln hat. Es ist doch ein großes Glück für uns und vor allem für Tina, an einen solchen Arzt geraten zu sein, der mit seinen Operationen nicht nur Lorbeeren ernten will, sondern so menschlich ist. Tina hat einen gütigen Freund gewonnen, und wir sollten dafür dankbar sein.«
Für Tina waren es freilich die schönsten Stunden, wenn Jonathan Tucker neben ihrem Bett saß. Dann wurde sie nicht müde, ihm zu lauschen. Was er so alles zu erzählen wußte! Weit war er in der Welt herumgekommen, bis er hier Fuß gefaßt hatte.
»Und warum bist du ausgerechnet hier geblieben, Jonathan?« fragte sie.
»Weil man mir hier die Möglichkeit gab, all das zu verwirklichen, was mir vorschwebte.«
»Und nun willst du immer hierbleiben?« fragte sie sinnend.
»Nun bin ich schon ein alter Herr, Tina, und es ist Zeit, daran zu denken, von Jüngeren abgelöst zu werden.«
»Du bist aber noch nicht alt«, widersprach sie.
»Du siehst mich mit ein wenig verklärten Augen«, meinte er schmunzelnd, »und der Bart verdeckt so manche Falten.«
»Aber deine Augen sind jung und deine Stimme«, sagte Tina, »und es gibt ganz bestimmt keinen so guten Arzt wie dich auf der Welt. Wenn ich erwachsen bin und Ärztin, möchte ich gerne hier bei dir arbeiten.«
Gerührt betrachtete er sie. »Bis dahin wird noch viel Zeit vergehen, kleine Tina. Und selbst wenn du sehr fleißig bist, werde ich dann schon an die achtzig Jahre sein.« Und vielleicht lebe ich dann gar nicht mehr, dachte er, aber rasch lenkte er sich ab. »Aber was würdest du sagen, wenn ich nach Deutschland kommen würde? Da hat ein guter, alter Freund ein wunderschönes Sanatorium, das ich schon lange einmal kennenlernen wollte. Und da könntest du dich ganz gut erholen. Insel der Hoffnung, heißt es, gefällt dir das?«
»Sehr gut«, nickte sie. »Und da willst du hin?«
»Mit dir, damit wir noch ein bißchen zusammenbleiben können.«
»Das wäre ganz wunderschön«, sagte Tina mit verklärten Augen. »Versetzt werde ich ja bestimmt, wenn ich jetzt auch viel versäume, und dann kommen die Sommerferien, da kann ich ja auch viel nachholen. Bei uns daheim ist es auch schön. Kann ich bald aufstehen, Jonathan?«
»In ein paar Tagen, und dann machen wir einen kleinen Spaziergang.«
»Dürfen sich Mami und Papi jetzt auch bald an mein Bett setzen?«
»Bald, Tina.«
»Wenn ich dich nicht hätte, wäre ich schon sehr traurig, daß ich sie immer nur durch das Fenster sehen kann. Sie sind so lieb, Jonathan.«
»Ja, das weiß ich, mein Kleines.« Doch, was er sonst dachte, behielt er für sich. Wenn Tina nämlich nicht so fürsorgliche Eltern gehabt hätte, würde dieses Kind schon lange nicht mehr leben.
*
Am Abend sagte er es Tinas Eltern. Er war zu ihnen gefahren, um ihnen zu sagen, daß sie Tina morgen kurz besuchen dürften.
Er hatte seinen Besuch telefonisch angekündigt. Sabine hatte schnell ein gutes Essen zubereitet, dem Jonathan Tucker nicht widerstehen konnte, obgleich er schon in der Klinik gegessen hatte.
»Ich will ja nicht sagen, daß unser Klinikessen schlecht ist«, meinte er schmunzelnd, »aber das ist doch etwas anderes.«
»Essen Sie immer in der Klinik?« fragte Sabine.
»Meistens, manchmal auch im Restaurant, wenn ich mal besondere Gelüste verspüre, aber das geschieht höchst selten. Ich habe ja niemanden, der für mich kocht.«
»Sie haben keine Familie?« fragte Manfred.
»Ich bin der übriggebliebene Sohn längst verstorbener Eltern«, erwiderte er, »immerhin bereits vierundsechzig Jahre alt.«
»Das hätte ich nicht gedacht«, sagte Sabine. »Sie sind noch so frisch und munter.«
»Man hört es gern, aber manchmal täuscht es und man täuscht sich auch selbst. Nun, um ein wenig mehr von mir zu erzählen, dürfen Sie ruhig wissen, daß ich früher mal verheiratet war. Es ist lange her. Wir hatten auch eine kleine Tochter, die ich abgöttisch liebte. Sie war auch herzkrank, aber es gab keine Möglichkeit, ihr zu helfen. Meine Ehe zerbrach darüber. Meine Frau heiratete einen Chefingenieur. Wenn Maschinen kaputt sind, verkraftet man das wohl eher. Ich bin sehr froh, daß es uns heute möglich ist, Herzkranken zu helfen, und besonders froh bin ich, daß wir Tina helfen konnten, daß ich es noch erleben kann, daß wir diesbezüglich solche Fortschritte machen. Wenigstens auf diesem Gebiet sind Erfolge erzielt worden. Aber wenn Tina nicht so be-
hütet worden wäre, wenn ihr aus inniger Liebe und Fürsorge nicht so viel Kraft zugeflossen wäre, hätte ihr solche Hilfe auch nicht zuteil werden können.«
»Tina war immer ein sehr einsichtiges Kind, und sie wußte wohl auch am besten, was ihr schaden mußte«, sagte Manfred.
»Die meisten Kinder verlieren den Lebenswillen, wenn ihnen zu wenig Liebe und Verständnis entgegengebracht wird«, sagte Jonathan Tucker. »Ich habe es leider oft genug erleben müssen. Wenn eine Seele getötet wird, resigniert der Kranke.«
Darauf herrschte ein längeres Schweigen. Sabine war in die Küche gegangen, um noch einen Kaffee zuzubereiten.
»Wie wäre es mit einem Brandy?« fragte Manfred.
»Keinen Widerspruch«, lächelte Professor Tucker. »Es duftet ja auch schon nach Kaffee. Ich beneide Sie.«
»Es ist schade, daß wir räumlich so weit voneinander entfernt sein werden, aber wir werden doch hoffentlich in Verbindung bleiben«, sagte Manfred.
Sabine kam mit dem Kaffee herein. »Ich wollte Ihnen einen Vorschlag unterbreiten«, sagte Jonathan Tucker.
»Sagen Sie bitte nicht, daß Sie Tina hierbehalten wollen«, flüsterte Sabine.
»Ich will doch nicht, daß das Kind unglücklich wird«, gab er zurück. »O nein, das dürfen Sie nicht denken, Sabine. Ich möchte noch mit ihr beisammen sein, aber nicht hier. Ich möchte sie mitnehmen auf die Insel der Hoffnung. Sie wissen doch, daß Dr. Nordens Schwiegervater dort Chefarzt ist. Wir sind gute alte Bekannte. Wir haben uns lange nicht gesehen, und ich habe Sehnsucht nach dem guten alten Europa und einem Gedankenaustausch mit, alten Freunden. Und für Tinas Regeneration wäre eine anschließende Kur sehr gut.« Er sah Sabine bittend und ein wenig traurig an. »Ich will sie Ihnen doch nicht wegnehmen, ich möchte sie nur noch eine Weile um mich haben. Ist dies zuviel verlangt?«
»Nein«, erwiderte Manfred rasch, und Sabine schüttelte nun beschämt den Kopf.
»Sie haben so unendlich viel für Tina getan«, flüsterte sie, »es ist ungerecht, wenn ich eifersüchtig bin.«
»Eifersüchtig?« fragte Jonathan betroffen.
»Bisher gehörte Tina doch nur uns.«
»Weil sie wußte, daß sie bei Ihnen geborgen ist«, sagte Jonathan ernst. »Aber es wird nicht so bleiben, und es würde sie doch nur in ihrer Weiterentwicklung einengen. Das müssen Sie begreifen, Sabine. Sie hat vieles zurückstecken, auf vieles verzichten müssen, was anderen Kindern selbstverständlich ist. Ihnen ist es zu danken, daß sie sich nie in die Ecke gestellt fühlen mußte. Und das hat doch weit mehr dazu beigetragen, daß sie überlebt hat als alle Medikamente. Nun wird sie Schritt für Schritt ein anderes Leben kennenlernen, langsam und bedächtig zwar, aber doch mit der Gewißheit, daß sie eines Tages springen und tanzen kann. Sie wird jung sein unter jungen Menschen und doch irgendwie schon so weise, daß sie den Gefahren ausweichen kann, die dieses Leben mit sich bringt, ohne daß man sie davor behüten muß. So wird sie an allem teilnehmen können, ihren Geschwistern und sicher auch anderen ein Vorbild sein und vielen helfen können,