Dr. Norden Bestseller Paket 4 – Arztroman. Patricia Vandenberg
Gott lenkt. Ich gehe hier weg, wenn mein Vertrag abgelaufen ist. Ein paar Jahre müssen mir bleiben, um meine Erfahrungen und meine Erkenntnisse der Nachwelt zu überliefern. Ich denke, daß dies meine Pflicht ist. Und dabei könntest du mir helfen, Harriet. An vieles kannst du dich besser erinnern als ich, und du hast ja auch Tagebuch geführt. Du hast doch oft gesagt, daß du das neue Deutschland gern mal besuchen würdest, wenn du Zeit dafür hast.«
»Das würde ich auch gern, und wenn du mich fragst, wenn das eben so eine Art Angebot gewesen sein sollte, dann sage ich ja.«
Ein Lächeln glitt über sein Gesicht. »Dann fällt mir die Entscheidung gar nicht mehr schwer, Harriet. Diesmal fahre ich allein, aber ich werde mich umschauen und ein nettes Häuschen suchen, wo wir unsere Erfahrungen zu Papier bringen können, in aller Ruhe, fern von aller Hektik.«
»Allein fährst du ja nicht«, sagte sie nachdenklich.
Schweigend blickte er zum Fenster hinaus. »Nächstes Jahr steht Tina mitten im Leben. Dann wird sie auch schon langsam eine junge Dame, und die Boys werden ihr nachschauen. Die Zeit entgleitet uns so schnell, Harriet. Erst jetzt habe ich mich erinnert, daß es doch gut ist, wenn man auf einem Höhepunkt scheidet und nicht mitleidvoll als alter Mummelgreis verabschiedet wird.«
»Du und Mummelgreis, bis dahin ist es wirklich noch lang hin«, sagte Harriet.
»Aber die Jahre lassen sich nicht leugnen. Ich mache mir keine Illusionen, Harriet. Es ist nicht immer ein kleines, tapferes Mädchen da, das mir die Daumen drückt. Uns geht jetzt alles viel mehr unter die Haut, oder willst du mir widersprechen?«
»Kann ich nicht«, erwiderte Harriet.
»Also dann, meine Gute, nächstes Jahr kommt der Tapetenwechsel. Du wirst doch nicht tatsächlich geglaubt haben, daß ich dich hier allein zurückgelassen hätte, dazu haben wir zwei doch viel zuviel gemeinsam mitgemacht.«
»Dank dir, Jonathan, daß du so denkst«, sagte sie. »Bist ein feiner Kerl, aber das habe ich dir ja schon oft gesagt.«
»Und du bist ein feines Mädchen, Harriet.«
»Ein altes Mädchen«, lächelte sie mit ganz tränenfeuchten Augen. »Wie es sich für einen alten Knaben geziemt. Kannst du eigentlich auch kochen?«
»Das hättest du schon längst feststellen können«, erwiderte sie lächelnd. »Aber ich kann mir ja schon ein paar Rezepte von Sabine geben lassen, wenn es dich danach gelüstet. Wenn ich gewußt hätte, daß bei dir auch die Liebe durch den Magen geht, hätte ich mir mehr Mühe gegeben.«
»Weißt du, Harriet, früher war mir alles egal, was ich geschluckt habe. Da gab es nur die Arbeit. Ich war besessen davon, alles zu erreichen, was ich mir so vorstellte.«
»Hast du alles erreicht, Jonathan?«
»Ich habe einem liebenswerten, klugen Kind ein neues Leben schenken können. Das zählt letztendlich für mich, Harriet. Die anderen, die ich operierte, hatten entweder Angst vor dem Sterben, oder sie wollten nur leben, besser gesagt, das, was sie unter leben verstanden. Aber Tina dachte weit in die Zukunft hinein. Sie dachte auch an mich, an meine Angst vor der Operation, und kannst du mir jemanden sagen, der an mich dachte, wenn ich das Skalpell in die Hand nahm?«
»Ja, ich«, erwiderte sie schlicht, aber dann drehte sie sich um und eilte schnell davon. Und Jonathan dachte, daß er sich zu wenig Gedanken um sie und ihre Gefühle gemacht hätte, sonst hätte er wohl auch nicht so viele Abende hinter seinen Büchern verbringen müssen.
Aber dann hätte es wieder Klatsch gegeben, dachte er dann. Es galten ungeschriebene Gesetze in diesem Hospital, die schon manchem zum Verhängnis geworden waren. Natürlich wurde alles hier sehr diskret abgehandelt, aber es gab einen Verwaltungsrat, der die Augen und Ohren überall hatte. Es war noch gar nicht so lange her, daß ein Arzt an die Klinik gekommen war, der schon einige Jahre geschieden war. Er hatte sich mit einer jüngeren Krankenschwester angefreundet, und schon bald hatte man ihnen anheimgestellt, sich doch eine andere Stellung zu suchen.
Das waren Begebenheiten, die Jonathan immer geärgert hatten, aber er hatte sich nie eingemischt. Er hat-
te sich immer nur für die Patienten interessiert. Doch nun hatte die kleine Tina längst schlummernde Gefühle in ihm geweckt, die Sehnsucht nach menschlicher Wärme.
*
Nach solcher Wärme sehnte sich auch Lotte Rimmel, die in einem langen Winter nur mit ihren Tieren gesprochen hatte. Um die Pfingstzeit hatte sie ein paar Hausgäste gehabt, die etwa im gleichen Alter wie sie gewesen waren. Nette Leute, denen es gefiel, die aber doch sagten, daß sie nicht ständig so fern der Stadt leben wollten. Für ein paar Wochen schon, aber nicht länger. Und dann hatte Dr. Norden ihr das Ehepaar Fiebig angekündigt mit dem kleinen Sohn Danny. Wenn es nicht der Dr. Norden gewesen wäre, hätte sie nein gesagt. Lieber wollte sie für sich allein sein, als bedauert zu werden für dieses einsame Leben, das sie sich doch selbst nach schweren Enttäuschungen gewählt hatte.
Aber Dr. Norden konnte sie nichts abschlagen. Er hatte sie davor bewahrt zu resignieren und ihr zugeredet, sich für ihren Lebensabend noch eine neue Aufgabe zu schaffen. Sie stammte vom Lande, sie solle zurück aufs Land gehen, hatte er ihr geraten. In der Stadt hatte sie sich nicht glücklich gefühlt, aber sie hatte ausgeharrt, solange ihr Mann lebte. Richtig glücklich war sie in dieser Ehe nie gewesen. Kinder waren ihr versagt geblieben, und ihr Mann hatte auch keine gewollt. Ihn hatte jedes Kinderlachen gestört. In den großen Mietshäusern, die er gebaut und vermietet hatte, waren keine Spielplätze für Kinder einkalkuliert, aber es waren doch eine ganze Anzahl darin zur Welt gekommen und herangewachsen. Kleine Füße waren treppauf und treppab getrappelt, und auch darüber hatte er sich aufgeregt.
Und wenn sie ihn gebeten hatte, doch etwas toleranter zu sein, hatte sie seinen Ärger ausbaden müssen.
Doch nun würde ein Kind auf ihren Bauernhof kommen, das erste Kind, seit sie hier lebte, und Lotte Rimmel war ganz aufgeregt. Mit besonderer Liebe und ganz eigenhändig hatte sie das Zimmer für den kleinen Danny hergerichtet, sogar schnellstens ein Kinderbett gekauft. Drei Wochen würde sie Kinderlachen genießen können, und vielleicht kamen dann später auch noch mehr Eltern mit Kindern, die sich hier so frei tummeln konnten, die sich an den Tieren freuten, und denen es nicht langweilig wurde und murrten, weil es hier keinen Fernseher gab.
Den hatte Lotte Rimmel hassen gelernt, weil ihr nun bereits vor zwei Jahren verstorbener Mann diesen immer zu allererst eingeschaltet hatte, wenn er die Wohnung betrat, noch bevor er sie begrüßt hatte. Und wehe, wenn dann schon eine Sendung begonnen hatte, die er sehen wollte. Ob sie sich denn für gar nichts interessiere, hatte er gemurrt.
O ja, sie hatte sich für vieles interessiert, aber es waren eben andere Dinge gewesen als jene, für die er sich interessiert hatte.
Alles, was ihr Freude machte, hatte sie heimlich tun müssen. Zum Beispiel, in der Krankenfürsorge zu helfen, oder die Waisenkinder an den Festtagen zu beschenken. Das Geld dafür hatte sie sich absparen müssen, obgleich Geld und Gut in Hülle und Fülle vorhanden waren.
»Jeder Mensch bekommt seine Chance«, hatte ihr Mann immer gesagt. »Der eine versteht sie zu nutzen, der andere nicht.« Und für ihn waren alle Faulpelze, die es nicht zu Besitz brachten. Und wenn sich Lotte mal erlaubte zu sagen, daß sie sich im Alter doch aufs Land zurückziehen könnten, hatte sie nur zu hören bekommen, daß sie ein Bauerntrampel gewesen und geblieben sei.
Nun, so sah sie nicht aus. Mit ihren fast sechzig Jahren war sie eine noch schlanke, ansehnliche Frau, die vital und flink endlich ihr Leben selbst bestimmen konnte.
Und behende eilte sie aus dem Haus, als Martin Fiebigs Auto mit hörbarem Geräusch nahte.
»Grad, daß wir es geschafft haben«, waren Martins erste Worte, als er ausstieg. »Unser Muckel ist schon ein bißchen altersschwach.«
»Wir haben hier eine gute Werkstatt«, sagte Lotte Rimmel. »Aber erst einmal herzlich willkommen.«
Danny kletterte aus dem Wagen, sah Lotte staunend an. »Das ist doch keine Dame, Mami, das ist eine Omi«, sagte er, und damit hatte er Lottes