Dr. Norden Bestseller Paket 4 – Arztroman. Patricia Vandenberg
»Ich kann mir deinen Augenaufschlag schon vorstellen«, sagte Jessica anzüglich. »Aber der Zweck heiligt die Mittel. Dann wollen wir mal schlafen, damit der Verstand wach bleibt. Mir ist jetzt jedenfalls wohler. Ich habe mir schon große Sorgen um dich gemacht, und ich habe deinetwegen wirklich nicht gern geschwindelt.«
»Tut mir auch leid, aber ich werde es einmal gutmachen. Ganz bestimmt. Meinst du ob Onkel Jürgen kommt?«
»Warum bist du eigentlich so wild darauf?« fragte Jessica.
»Weil ich wissen möchte, von wem ich die leichte Ader habe. Es muß doch irgendwie in der Familie liegen.«
»Jetzt hast du sie ja besiegt«, meinte Jessica, »und er ist ein Mann, der auf die Fünfzig zugeht und anscheinend immer noch eine leichte Ader hat.«
*
Das mochte in gewisser Beziehung zutreffen. Tierisch ernst hatte Jürgen Schilling das Leben nie genommen, und dennoch tat man ihm Unreeht, wenn man solche Gedanken hegte, die auch Georgia bewegten.
Er hatte das Telegramm bekommen. Er war erstarrt. Und gleich griff er zum Telefon und buchte einen Flug.
Es gehörte zu seiner Lebensauffassung, daß er niemals negativ dachte. Vieles war auf ihn eingestürmt, aber mit allem war er immer fertig geworden, da nur Tatsachen für ihn galten, die man überwältigen oder an denen man zerbrechen konnte. Aber daß sein Bruder, daß jemand aus der Familie, die ihm doch etwas bedeutete, todkrank werden könnte, solange er sich, trotz seines ruhelosen Lebens, bester Gesundheit erfreute, das wollte ihm nicht in den Sinn.
Und so kam es, daß sein sonnengebräuntes Gesicht, das seine manchmal harten Lebensjahre Lügen strafte, fahl wurde, als er seinen Koffer packte.
Am Mittwochabend, zehn Minuten nach zwölf Uhr, ging der große breitschultrige Mann im grauen Flanellanzug in München-Riem durch den Zoll und strebte schnell ins Freie. Er setzte sich in ein Taxi und nannte kurz sein Ziel.
Es regnete in Strömen. »Sie kommen aus wärmeren Gefilden«, sagte der junge Taxifahrer.
»Ja«, erwiderte Jürgen wortkarg. Er war nicht zum Reden aufgelegt.
»Das Wetter ist plötzlich umgeschlagen«, sagte der Fahrer. »So ist das bei uns. Gestern so, morgen wieder anders.«
»Als ich das letzte Mal in München war, hatte es vierzehn Tage non stop geregnet«, sagte Jürgen gedankenverloren.
»Das passiert auch. Man möchte auswandern.«
»Versuchen Sie es doch«, sagte Jürgen ironisch. »Aber machen Sie sich keine Illusionen.«
»Na ja, man hört so allerhand, aber manche haben doch Glück.«
Jürgen versank in Schweigen. Er hörte gar nicht mehr zu, was der andere redete.
Was ist Glück, dachte er. Geld? Erfolg? Auszeichnungen? Ist nicht das einzige Glück, mit der Frau leben zu können, die man liebt, mit der man alt werden möchte?
Jürgen Schilling war überzeugt, daß sein Bruder Holger so gedacht hatte. Und er selbst hatte ihn beneidet um das bezaubernde junge Mädchen, das von Holger zum Traualtar geführt wurde.
Das München, durch das sie fuhren, erkannte Jürgen gar nicht mehr. Aber er warf auch nur ab und zu einen Blick aus dem Fenster, und da der Regen gegen die Scheiben klatschte, konnte er sowieso nicht viel sehen.
»Ich muß die Straße erst suchen«, verkündete der Taxifahrer ziemlich mürrisch, da sein Fahrgast nun so schweigsam geworden war. »Können Sie mir weiterhelfen?«
»Nein, ich war noch nie hier«, erwiderte Jürgen. Scheint ja ein ganz nettes Viertel zu sein, dachte er dann. Und schließlich hielten sie vor dem Haus.
Jürgen zog den Trenchcoat über, um nicht ganz pudelnaß zu werden. Er zahlte mit Dollar, aber so großzügig, daß es keine Debatte wegen des Wechselkurses gab. Ja, großzügig war er immer gewesen. Leben und leben lassen, war seine Devise. Und dann drückte er auf die Klingel. Himmel, wenn jetzt niemand da ist, dachte er, während der Regen auf ihn herabprasselte. Doch der automatische Türöffner summte, und er lief den Gartenweg entlang.
Und dann stand er vor Georgia. Ihre Augen wurden ganz weit, und ihm lief das Wasser aus den Haaren über das Gesicht.
»Jürgen, schnell hinein«, sagte sie überstürzt.
Er merkte die Nässe nicht mehr. Er blickte in ihre Augen, griff nach ihren Händen und sagte mit rauher Stimme, die ihm nicht gehorchen wollte: »Georgia.«
»Du bist schnell gekommen«, flüsterte sie.
»Das war ja auch ein schöner Schrecken«, murmelte er.
»Du bist ja patschnaß, Jürgen«, sagte sie.
Und da kam Nadine die Treppe heruntergesprungen. »Onkel Jürgen?« Staunend blieb sie stehen und starrte ihn an.
Emporblicken mußte sie zu ihm, obgleich sie auch nicht gerade klein war. Aus seinen dunklen, nur leicht graumelierten Haaren rann noch immer das Wasser, und in seinen dunklen Augen war ein seltsamer Ausdruck.
»Nadine?« fragte er zögernd. »Mein Gott, wie erwachsen du bist und wie hübsch.«
»Reden können wir nachher«, sagte Georgia. »Du mußt dich erst umziehen, Jürgen.« Er war ganz froh, jetzt nichts mehr sagen zu müssen. Sein Herz schlug wie ein Hammer und er mußte gegen das beklemmende Gefühl ankämpfen, unendlich viel in seinem Leben versäumt zu haben.
Inzwischen war Jessica gekommen, ebenfalls ziemlich naß, obgleich Markus sie von der Schule abgeholt und heimgebracht hatte, aber er mußte an diesem Tag noch nach Heidelberg fahren, um seine Sachen zu holen und vor allem seine Unterlagen für die Doktorarbeit.
»Onkel Jürgen ist gekommen«, sagte Nadine überstürzt, »er sieht einfach toll aus.«
»Wirst du wieder rückfällig?« fragte Jessica spöttisch.
»Wenn es wahr ist. Du wirst es auch feststellen. Überhaupt keine Ähnlichkeit mit Papa.«
»Früher waren sie sich schon ähnlich«, sagte Georgia gedankenvoll, »nur hat Jürgen sich nicht viel verändert.«
Nur äußerlich nicht, oder überhaupt nicht? fragte sie sich. Aber das sollte jetzt Nebensache sein. Sie war plötzlich seltsam glücklich.
Das Essen war ohnehin vorbereitet. Nadine deckte den Tisch mit besonderer Hingabe. Und dann erschien Jürgen in beiger Hose, taubenblauem Hemd und beigem Pulli. Sein kraftvoller, durchtrainierter Körper kam in dieser Kleidung noch besser zur Geltung. Und auch Jessica hielt den Atem an.
»Nun habe ich die drei Grazien beisammen«, sagte er mit tiefer, warmer Stimme. »Ich freue mich. Darf ich euch in die Arme nehmen?«
Durch den Regen und die Dusche war nun wieder Farbe in sein Gesicht gekommen. Kaum Falten wies es auf.
Sechsundvierzig sollte er sein? Nein, das wollte Georgia jetzt gar nicht glauben.
»Und wer ist die Schönste im ganzen Land«, sagte er leise, als er Georgia in die Arme nahm und auf beide Wangen küßte.
»Immer noch der alte Schmeichler«, sagte sie mit belegter Stimme. »Herzlich willkommen, Jürgen.« Das kam ihr doch aus vollem, wenn auch bebendem Herzen. »Aber jetzt wird erst gegessen.«
»Du bist schnell gekommen, Onkel Jürgen«, sagte Nadine.
Er blinzelte ihr zu. »Sofort. Aber könnt ihr den Onkel nicht weglassen? Ich komme mir gleich uralt vor.«
»Immer noch eitel?« fragte Georgia.
»War ich das jemals?« fragte er seltsam nachdenklich. »Wenn ich mir vorstelle, daß ich auch zwei so reizende Töchter haben könnte, wird mir bewußt, daß das Leben doch irgendwie an mir vorbeigerauscht ist.«
»Warst du überhaupt nie verheiratet?« fragte Jessica stockend.
»Nie. Wer hätte es