Walk by FAITH. Felicitas Brandt
meiner Mitbewohnerin an der Uni verstanden, die eine ähnliche Einstellung hatte und außerdem extrem geruchsempfindlich war. Den Fehler, mir nach einer bestandenen Klausur Pizza nach Hause liefern zu lassen, wenn sie im Zimmer nebenan war, hatte ich genau ein einziges Mal gemacht.
„Schau mal, was hältst du von dieser hier?“ Tante Fiona war wieder in der Küche erschienen und hielt mir eine Kette entgegen. Sie war aus Roségold, ebenso wie der schwere Anhänger, der mit einem kleinen Blumenbild verziert war. Drückte man den Anhänger zusammen, sprang er auf und enthüllte eine kleine Uhr.
„Die ist wunderschön“, gab ich überrascht zu und nahm den Schal ab. „Sicher, dass du sie mir ausleihen willst?“
„Ich habe das Gefühl, sie passt besser zu dir als zu mir“, erwiderte meine Tante und legte mir die Kette um. „Behalte sie, solange du möchtest.“
„Okay … Danke!“ Ich fuhr mit dem Daumen über das Medaillon und spürte, dass auf der Rückseite etwas eingraviert war. Es war nur ein Wort. Smile. Unwillkürlich bewegten sich meine Mundwinkel nach oben.
Tante Fiona erwiderte mein Lächeln. „Gut … wollen wir dann?“
Wir wollten. Tante Fionas Auto roch wie frisch aus der Fabrik. Ich bewunderte die Gelassenheit, mit der sie sich durch den abendlichen Verkehr schlängelte. Unwillkürlich irrten meine Gedanken nach Hause. Es war Donnerstagabend, bestimmt saßen sie gerade beim Abendessen. Zumindest Mama und Jude, die vielleicht noch auf Papa warteten. Möglicherweise war er aber auch schon da, wenn in der Kanzlei nicht viel los gewesen war. Meine Eltern waren erfolgreiche Anwälte, die gemeinsam mit einem Studienfreund meines Vaters eine große Kanzlei führten. Als meine Mutter damals mit mir schwanger geworden war, hatte sie angefangen, von zu Hause aus zu arbeiten. Außerdem hatte sie ihre Stunden reduziert und das war bis heute so geblieben. Ihr war ihre Familie, besonders ihre Kinder, immer wichtiger gewesen als die Arbeit und dafür liebte ich sie sehr. Ich hatte als Kind viele Mitschüler gehabt, die nach dem Unterricht zu ihren Großeltern oder in die Schulbetreuung gegangen waren. Doch auf mich hatte immer ein warmes Mittagessen und meine Mutter gewartet, wofür ich heute unheimlich dankbar war.
Ob Jude wohl gerade aufgeregt von ihrem Tag berichtete? Ich schob meinen Ärmel hoch und betrachtete das Snoopy-Tattoo. Wir hatten es zusammen aufgeklebt, kurz vor meiner Abreise. Sie hatte mit dem Waschlappen mehr Wasser auf ihre Jeans getropft als auf mein Handgelenk und dabei wie ein irrer Kobold gekichert. Ich dagegen hatte mit aller Macht die Tränen zurückzuhalten versucht. Mein Herz, dieses wunde, zerbrochene Etwas in meiner Brust, hatte so sehr geschmerzt, dass ich kaum atmen konnte. Ich wollte nicht weg und gleichzeitig wollte ich es doch. Weil ich genau wusste, dass es so nicht weitergehen konnte. Mein Studium hatte mich überfordert, doch was mich letztlich ganz zerstört hatte, war der Tod meiner Oma gewesen. Ich hatte gerade eine wichtige Klausur geschrieben, für die ich wochenlang wie verrückt gebüffelt hatte. Mit einem guten Gefühl im Bauch war ich auf dem Weg in meine WG gewesen, als der Anruf von zu Hause kam. Mein Vater war sehr ernst gewesen und hatte mir in ruhigen Worten mitgeteilt, dass meine Oma schwer krank sei und es vielleicht gut wäre, wenn ich nach Hause kommen könnte. Krebs, hatte er gesagt. Endstadium.
Ich war so perplex gewesen, dass ich einen ganzen langen Moment nur mit dem Handy in der Hand dagestanden hatte, ehe die Nachricht von meinem Gehirn verarbeitet worden war. Dann war ich losgerannt, quer über den Campus. Der Koffer war innerhalb von wenigen Minuten gepackt gewesen und keine Stunde nach dem Anruf hatte ich im Zug nach Hause gesessen. Noch aus dem Zug heraus hatte ich meinen Cousin angerufen, der mich vom Bahnhof abholen sollte. Ich wusste, dass er schneller als jedes Taxi sein würde, und tatsächlich hatte er auf dem Weg zum Krankenhaus auch jeden Geschwindigkeitsrekord gebrochen.
Trotzdem war ich zu spät gekommen.
Danach war nichts mehr gewesen wie zuvor. Ich kam nicht mehr aus dem Bett, fand keine Motivation zu duschen oder zu essen, und an die Uni verschwendete ich überhaupt keinen Gedanken. Bis meine Eltern die Notbremse zogen.
„Valerie.“ Ich schrak aus meinen Gedanken hoch. Tante Fionas Hand drückte meine Schulter. „Hey, Träumerin, wir sind da.“
Ich fühlte die Tränen auf meinen Wangen und wischte sie hastig fort. „Hübsch“, sagte ich, ohne nachzudenken. Erst einige Sekunden später schnallte ich, dass wir uns in einem Parkhaus befanden und auf eine graue Wand starrten. „Farbenfroh.“
Tante Fiona schnaubte, machte aber keine Anstalten auszusteigen. „Ich habe das Gefühl, dein Vater sitzt neben mir.“
„Ich wusste, ich hätte ein anderes Parfüm auflegen sollen.“ Ich weigerte mich, ihrem Blick zu begegnen, und starrte nur stur auf die graue Wand. Krampfhaft versuchte ich, die Tränen fortzublinzeln und die düsteren Gedanken gleich mit.
„Es ist in Ordnung, weißt du?“, sagte Tante Fiona.
„Was denn?“, murmelte ich.
„Traurig zu sein. Wütend. Verwirrt. Und überfordert. Das alles ist völlig in Ordnung, Valerie. Du darfst dich so fühlen. Du darfst dich nur nicht davon bestimmen lassen. Nicht auf Dauer.“
„Jetzt klingst du wie mein Vater.“
„Ich gebe es nicht gerne zu, aber manchmal hat mein kleiner Bruder recht mit dem, was er sagt.“
Ich griff nach dem Medaillon an der Kette und fuhr mit dem Daumen über die glatte Seite, bis mein Finger das Smile erreichte. Es wirkte nicht so gut wie zuvor. „Ich hätte nicht gedacht, dass mir das mal passiert.“
„Was genau?“ Erst Tante Fionas Frage machte mir bewusst, dass ich die Worte laut ausgesprochen und nicht nur gedacht hatte. Ich ließ mir Zeit mit der Antwort, versuchte die Gefühle in meinem Herzen irgendwie mit Worten zu kombinieren, die auf meine Zunge passten. „Dass sich das Leben anfühlt, als würde man an einem riesigen Abgrund entlangbalancieren. Und der Weg ist nebelig und holperig und man sieht gar nicht so wirklich, wo es langgeht. Und wenn man einen falschen Schritt tut, dann …“
„Landet man in dem Abgrund?“, fragte sie, als ich nicht weitersprach, sondern wieder unverwandt auf die graue Wand starrte, die sich vermutlich schon von mir belästigt fühlte. Ich nickte. „Und was passiert dann?“
„Nichts Gutes.“ Ein Schauer lief mir über den Rücken und ich umklammerte das Medaillon ein bisschen fester. Ich wollte die Hand meiner Tante, die noch immer auf meiner Schulter lag, abschütteln, aber gleichzeitig vermittelte sie auch einen Trost, ohne den ich vielleicht diesen Moment nicht überstehen würde. „Es tut weh“, flüsterte ich. „Mein Herz tut so unendlich weh, wenn ich an sie denke.“
„Meins auch.“ Zwei Worte, die mir in Erinnerung riefen, dass meine Oma auch die Mutter von Tante Fiona gewesen war. Endlich schaffte ich es, sie anzusehen. Ihr Blick war traurig, aber nicht so zerbrochen wie meiner. „Es heilt“, sagte Tante Fiona und drückte meine Schulter. „Du wirst schon sehen.“ Sie warf einen Blick aus dem Fenster und seufzte. „Soll ich dich lieber wieder zurück zu mir fahren?“
Ich war froh, dass sie nicht zu Hause gesagt hatte. Denn wir beide wussten, dass ich hier in Berlin kein Zuhause hatte. Ich schüttelte den Kopf und atmete tief durch. Ich wollte nicht noch weiter weglaufen. „Nein. Lass uns das machen. Jetzt sind wir schon mal hier und ich habe Hunger. Und ich glaube, neben uns parkt ein Catering-Wagen. Das lässt mich auf ein gutes Abendessen hoffen.“
Tante Fiona lachte in sich hinein. Wir stiegen aus und sie kam um den Wagen herum, um sich bei mir einzuhaken. „Du und ich und Berlins Kunstszene. Das wird lustig.“
Na gut, unter lustig verstand ich ein bisschen was anderes. Sherlock Holmes war lustig. Oder die Dialoge der Avengers. Das hier … war nett. Es waren wirklich nette Menschen und sie waren alle furchtbar nett zu mir. Und die Häppchen waren wirklich richtig nett! Wir feierten das Bild einer Künstlerin, die hier lebte und die gerade irgendeinen Preis dafür gewonnen hatte. Es handelte sich um abstrakte Kunst, viele Farben, wenig erkennbare Formen. Ich starrte eine ganze Weile darauf und war seltsam fasziniert, obwohl ich gar nicht wusste, wovon genau. Die Künstlerin stellte sich neben mich und reichte