Walk by FAITH. Felicitas Brandt
das sehr nach einer Flöte aussah. Vor ihm lagen verschiedene Schnitzereien, aber auch einige Instrumente. Hauptsächlich Flöten. Aber da war auch –
„Val?“
Ich reagierte nicht, sondern ging nur wie ferngesteuert auf den Stand zu. Dabei stieß ich gegen irgendeine Schulter und jemand schimpfte, doch ich brachte nur eine gemurmelte Entschuldigung hervor und ging weiter. Die Violine lehnte an einem Holzscheit. Ihr Holz glänzte in der Sonne und wies schon ein paar Kratzer auf. Sie brauchte dringend etwas Pflege und die Saiten mussten vermutlich auch neu aufgezogen werden, aber das würde alles kein Problem sein. Ich klammerte die Finger in die Träger meines Rucksacks. Mein Herz klopfte schwer.
„Guten Morgen, junge Dame.“ Der Verkäufer hatte sich erhoben und lüftete freundlich seinen Hut vor mir. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Die Violine.“ Ich musste mich räuspern, meine Stimme klang wie Schmirgelpapier. „Warum haben sie nur die eine? Sie sind Holzschnitzer, kein Geigenbauer.“
„Ich habe sie gefunden, auf dem Sperrmüll. Sie ist kaputtgegangen“, sagte der Mann bedauernd. „Da ist nichts mehr zu machen. Ich stelle sie nur noch als Dekoration aus. Sie ist sehr schön.“
„Wunderschön“, flüsterte ich und ließ die Violine nicht aus den Augen, während meine Hand schon in meinen Rucksack wanderte. „Wie viel?“
„Wie bitte?“ Der alte Mann beugte sich vor.
„Wie viel für die Violine?“, wiederholte ich mich. „Ich möchte sie kaufen.“
„Aber kleine Lady, Sie verstehen nicht. Sie ist kaputt. Zerbrochen. Sie können nicht darauf spielen.“
„Sie ist nicht wertlos, nur weil sie zerbrochen ist! Man kann sie reparieren. Es gibt noch Hoffnung!“ Ich stieß die Worte viel heftiger hervor, als ich gewollt hatte. Rings um uns wurde es leiser. Menschen blieben stehen und starrten uns an. Ich nahm es nur verschwommen wahr. Tränen kamen und drängten sich mit aller Macht aus meinen Augen. Vorsichtig streckte ich die Hand aus und strich langsam über den schlanken Hals der Violine. „Sie ist noch nicht verloren“, flüsterte ich.
Die Farben um mich herum verschwammen zu dem Braun eines Sarges. Eines Sarges, der in die Erde heruntergelassen wurde. Jemand spielte Geige. Zu laut. Zu tragisch. Zu unpassend. „Sie möchte das nicht. Es passt nicht zu ihr!“ Immer und immer wieder hatte ich es gesagt, doch niemand hatte auf mich gehört. Sie hatten mir die Möglichkeit gegeben, selber zu spielen, doch ich hatte es nicht gekonnt. Meine Finger verkrampften sich auch jetzt noch allein bei dem Gedanken daran. Und dann hatten sie jemand anderen geholt, um zu spielen. Auf der Beerdigung. Auf der Nachfeier. Und es war so unpassend gewesen – sie hätte das nicht gewollt.
„Val?“ Wie aus weiter Ferne hörte ich Toris Stimme, spürte ihre Hand auf meiner Schulter und versteifte mich unwillkürlich unter der Berührung. So viele Hände, die Trost spenden wollten und mich doch nur weiter und weiter hinuntergedrückt hatten. Weil sie es nicht verstanden hatten. Niemand hatte es verstanden. Ich am allerwenigsten.
„Val!“
Ich blinzelte. Das Braun des Sarges verschwand, wurde zu lilafarbenen Haaren und großen Augen, aus denen Sorge sprach. „Val, rede mit mir!“ Sie umfasste mein Gesicht mit beiden Händen und dieses Mal wich ich nicht zurück. „Was ist denn nur los?“, flüsterte Tori und lehnte die Stirn gegen meine. „Was ist dir passiert?“
Ich sagte nichts, sondern stand einfach nur da und weinte. Lautlos. Tränenreich. Und die Mauer in mir schmolz unter den Tränen ein weiteres kleines Stück dahin.
Als ich mich beruhigt hatte, reichte Tori mir stumm eine Packung Taschentücher, zog ihr Portemonnaie heraus und drehte sich zu dem Verkäufer herum, der uns hilflos ansah. „Meine Freundin möchte diese Geige bitte kaufen.“
„Nimm sie“, sagte der Mann und machte eine aufmunternde Handbewegung. „Nimm sie mit. Ich hoffe …“ Er sah mir in die Augen und in seinem Blick las ich, dass er verstand. Nicht alles, aber ein kleines Stück. „Ich hoffe, sie wird dir helfen.“
Ich nahm das Instrument so behutsam hoch, wie andere ein Neugeborenes halten. Tori zauberte aus ihrer riesigen Tasche einen Stoffbeutel, in den wir sie vorsichtig hineingleiten ließen. Dann nahm sie meinen Arm und führte mich weiter. Beim nächsten Stand kaufte sie mir ein Sandwich und wir setzten uns am Rande eines Stands auf den Boden. Tori sah zu, wie ich brav, aber lustlos mein Sandwich aß und mir hin und wieder über die Augen wischte. Meine Brille rutschte mal wieder und mein Kopf dröhnte. Ich fühlte mich so elend wie schon seit Tagen nicht mehr. Irgendwann griff sie nach meiner Hand und drückte sie. „Du musst mir nicht sagen, was du mit dir herumschleppst. Aber wenn du mal jemanden zum Reden brauchst, kannst du immer zu mir kommen. Ich werde dich nicht verurteilen. Und ich kann dir einen Auftragskiller besorgen, wenn das nötig sein sollte.“
Mein Lachen klang kläglich. In meiner Hosentasche machte sich mein Handy bemerkbar. Ich warf einen Blick darauf und öffnete die neue Nachricht von meiner Mutter, wobei mir das Herz bis zum Hals schlug. Dort stand:
„Hallo Liebes, hab den Vers heute Morgen in meiner Andacht gefunden und musste an dich denken: Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Matthäus 5,4. Du fehlst uns wirklich sehr. Es wäre schön, von dir zu hören. Ich hab dich lieb, Valerie!“
Einen Augenblick starrte ich sprachlos auf das Display, dann warf ich mein Handy mit einem Schnauben in meinen Rucksack. Das durfte ja wohl nicht wahr sein. Sollte das etwa eine Form von himmlischem Sarkasmus sein? Das konnte ich wirklich nicht gebrauchen. Und doch nagten die Worte an mir, berührten etwas, obwohl ich sie am liebsten wie eine lästige Fliege an die Wand geschlagen hätte.
„Wer war das?“, fragte Tori und spähte meinem Handy hinterher. „Hast du einen Verehrer, der dich nervt?“
„Nein, nicht ganz.“ Kopfschüttelnd nahm ich den Hut ab und fuhr mir durch die Haare. Ein altbekannter Kopfschmerz begann sich hinter meiner Stirn einzunisten. Ich dehnte meinen Nacken nach links und nach rechts und plötzlich erfasste mein Blick eine bekannte Gestalt. „Da ist Jayden.“
„Hey, Jayden!“, rief Tori und winkte.
Ich setzte den Hut wieder auf und fuhr mir ein weiteres Mal hastig über meine verquollenen Augen, während Jayden stoppte und auf uns zukam. „Guten Morgen, die Damen.“ Sein Lächeln war etwas schwach. „Hätte ich mir doch denken können, dass ich dich hier finde, Tori.“
Tori breitete die Arme aus. „Du kennst mich eben zu gut!“
Ich blieb unhöflicherweise einfach sitzen und beschränkte mich auf ein Winken, während ich mich fragte, ob Tori das Zittern in Jaydens Händen auch sah. „Jayden, bist du sicher, dass du okay bist?“ Ich musterte ihn besorgt. „Geh mal zur Apotheke oder so.“
„Ach was, das ist bloß eine Erkältung. Die ist schon quasi weg. Einer der Gäste aus dem Balou hat erwähnt, dass heute jemand hier ist, der Möbel restauriert. Ich hab ein, zwei Stellen in der Bar, die er sich vielleicht mal ansehen könnte.“ Die letzten Worte endeten in einem Husten.
Tori zog die Stirn kraus, wich zurück und formte mit den Fingern ein X. „Weiche von mir.“
„Na, wer fällt mir denn hier um den Hals?“ Jayden rieb sich über die Stirn und sah mich an. Hoffentlich bemerkte er mein zerstörtes Aussehen nicht. „Snoopy, du magst doch gute Musik. Heute Abend spielen die Messengers bei uns. Hast du Lust?“
Mein Herz machte einen aufgeregten Satz. Musik. Ich liebte Musik unendlich. Die Art, wie sie mein Herz bewegte und mich an andere Orte trug. Und wenn ich gerade eins wollte, dann war es weg von mir selbst zu kommen. Musik konnte so etwas bewirken. Allerdings nicht immer, manchmal zerriss sie einen auch, zeigte einem Gefühle und Sehnsüchte, die man tief in sich vergraben geglaubt hatte. Man musste behutsam mit der Auswahl umgehen. Die Band, die Jayden gerade genannt hatte, sagte mir zwar nichts, aber einen Versuch war es wert. Bisher war alles, was ich im Balou gehört hatte, ziemlich großartig gewesen. Nur …
„Ich kann nicht“, antwortete ich zögernd.