Goldstück-Variationen. Michael Klonovsky

Goldstück-Variationen - Michael Klonovsky


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in Europa oder Übersee gedreht wurden, hat neben der warmen, unhektischen, kultivierten Diktion der Darsteller ja vor allem mit ihrer Kleidung zu tun. »Es wäre vielleicht nicht einmal abwegig, in der gesamten Periode von der Jahrhundertwende bis etwa 1970 eine stilistische Einheit zu sehen«, notierte Rolf Peter Sieferle. In den Filmen etwa seien Ton, Stimmung, Ambiente ungefähr identisch. »Ähnlich die Mode, vor allem die Männermode: Anzug und Schlips treten gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf und beginnen seit den frühen siebziger Jahren wieder zu verschwinden; sie degenerieren zur Berufskleidung von Versicherungsvertretern und Politikern. Vielleicht können sie, ähnlich wie die Culotte im 19. Jahrhundert, noch eine längere Zeit ihr Dasein in bestimmten Gesellschaftssegmenten fristen, doch gehören sie nicht mehr zur dominanten Uniformierung des Massenmenschen.«

      Typischerweise lesen wir in den Gazetten, dass »Top-Manager« zunehmend auf die Krawatte verzichten, und zwar mit einer gewissen Periodizität, als müsse noch der Letzte der enorm wichtigen Herren davon überzeugt werden. Am spektakulärsten aber, so Sieferle, sei das Verschwinden des Hutes – ich vermag mir an dieser Stelle jedesmal die Bemerkung nicht zu verkneifen: mit Ausnahme der Geßler-Hüte –: »Im Untergang des Hutes bestätigt sich die alte kulturkritische Diagnose, daß mit der bürgerlichen Kultur eine sehr weit in hochkulturelle Räume zurückreichende Tradition untergegangen ist.«

      Was stattdessen über die gesamte westliche Welt hereinbrach, war die Kultur der Unterschicht. Dieser Prozess begann im Gefolge des 68er Destruktionstheaters, als die gesamte westliche Welt in Alltagsgeschmacksfragen auf LSD gekommen zu sein schien: Die Frisuren, die knallbunten Farben von Hemden, Autos und Tapeten, die Schnitte der Hosen und die auf Küchenfliesen geklebten Pril-Blumen bezeugten, dass die Gesellschaft ästhetisch verrückt geworden war. Die Befreiung des Menschen von den »bürgerlichen Zwängen« lief naturgemäß darauf hinaus, dass er seinen animalischen Trieben mehr Auslauf verschaffen durfte. Am signifikantesten standen dafür die sogenannte sexuelle Revolution, der explodierende Drogenkonsum und die Rockmusik. Mögen die Beatles noch Genies gewesen sein, der abschüssige Weg war beschritten. Heute hören die Jugendlichen Rap, und die Luxusvorstellungen eines Spitzenpolitikers oder -managers laufen ungefähr auf das hinaus, was Videos amerikanischer »Gangsta-Rapper« als die verdienten Trophäen des Rücksichtslosen präsentieren: geile Weiber, große Autos, teure Uhren.

      Sieferle übernimmt für diesen Prozess einen Begriff, den der amerikanische Kulturhistoriker Paul Fussell geprägt hat: prole drift. Diese Drift besteht darin, dass der Stil – und das gilt nicht nur für die Kleidermode – »nicht mehr von oben nach unten, sondern von unten nach oben fließt«. Dergleichen habe es in agrarischen Zivilisationen nie gegeben. Die aus der aristokratischen Kultur gewachsene bürgerliche Kultur wandert derweil ins Museum (das Museum ist bürgerliche Kultur). Oper, klassisches Konzert, Hausmusik, Salon, Manieren, Tischsitten, Konventionen, Konversation, Bildungskanon, all das sind nur noch von distinkten Käuzen gepflegte Überbleibsel einer verschwundenen Epoche. Wer einen Prozess namens prole drift überhaupt bemerkt, gehört schon zu diesen Käuzen. Die neue, »moderne« Kultur besteht zu einem gewissen Teil noch aus dem Abräumen der alten – der Begriff Regietheater sollte hier als pars pro toto hinreichen –, ansonsten genügt der Besuch einer documenta und eines Rock-Pop-Rap-Konzerts, um zu wissen, worauf die Sache hinausläuft. Zum Phänomen prole drift gehören Boxkämpfe, Fußballspiele, überhaupt Sportereignisse als der zentrale Kult unserer Zeit – außer in Mekka und bei Papstbesuchen versammeln sich nirgendwo so viele Menschen, aber beim Sport tun sie es regelmäßig in insgesamt ungleich höherer Zahl –, dazu gehört generell die Vorliebe für Massenveranstaltungen, Massenpartys, Massentourismus, Massenstrände, Massenskipisten, überhaupt alles Massenhafte. Und eben auch die Veränderung der Kleidung ins Funktionale, Stillose, Beliebige, aber in seiner Beliebigkeit entsetzlich Uniforme.

      Apropos funktional: Ich werde mich jetzt in meinem Harris Tweed-Anzug für ein Vormittagsschläfchen aufs Sofa legen, in der schönen Gewissheit, dass der Stoffbeim Aufstehen keine einzige Falte haben wird. Mallory, Irvine und die anderen Titanen der frühen Alpinistik sind in Tweedanzügen auf den Mount Everest gestiegen (und dort gestorben, was allemal würdiger ist, als irgendwo in Jack Wolfskin-Klamotten zu mumifizieren).

      Wenn es wärmer wird, reden wir über italienische Anzüge.

      »Für mich nach 20 Jahren als Gerichtsreporterin der erschütterndste Prozess meines Berufslebens.« So beginnt ein Artikel über den Prozess gegen Mohammed N., 27, und Adil E., 35, »die mit falschen Identitäten nach Deutschland eingereist waren«. Die beiden Marokkaner hatten »mehrere Unterkünfte zerlegt, Menschen in und vor Gaststätten angegriffen. So bekam ein Mann ein Bierglas ins Gesicht geschlagen, einem Behinderten wurde die Krücke weggenommen, als er zu Boden ging, wurde er mit der Krücke geschlagen. Schon diese Taten hatten die Angeklagten gemeinsam begangen, doch der 35-Jährige hatte noch mehr auf Lager: So wurden einmal Menschen auf einem Supermarktparkplatz mit einer Machete verfolgt, bei zwei anderen Gelegenheiten zog der 35-Jährige einmal mit einer Axt und ein weiteres Mal mit einer Motorsäge durch den Ort. Die Motorsäge stammte dabei übrigens aus einen Garageneinbruch bei dem Vorsitzenden eines Flüchtlingshilfevereins, den die Lindlarer extra zur Unterstützung der ankommenden Asylanten gegründet hatten.«

      Was alles offenbar kein Anlass war, diese fröhlichen Gesellen auszuweisen oder vorm Kanzleramt anzuketten. Erst mussten die beiden einen Mitbewohner mit »ungeheurer Brutalität und selten anzutreffendem Vernichtungswillen«, wie der Richter sagte, zusammenschlagen und -treten. Das ins Koma geprügelte Opfer landete auf der Intensivstation, die beiden Täter in U-Haft. Dort ging es weiter. »Nachdem er einen Mitgefangen schwer verletzt hatte und schließlich einen Justizvollzugsbeamten angegriffen und mit dem Tode bedroht hatte (›Ich habe schon zwei Menschen getötet und du bist der dritte‹), war der 35-Jährige nur noch in Hand- und Fußfesseln, begleitet von mehreren Beamten, ins Gericht gebracht worden. Dem Gericht hatte E. schon angekündigt, dass er nicht an der Urteilsverkündung teilnehmen werde, weil der Richter kein Recht habe, dort zu sitzen und er nur Angst vor Gott habe. Das Urteil werde er anfechten. Tatsächlich musste E. von den Beamten gefesselt in den zweiten Stock in den Gerichtssaal getragen werden und selbst dort kämpfte der Mann mit aller Kraft gegen die Beamten. Lediglich am Boden liegend konnte er halbwegs ruhig gehalten werden.«

      So geht es also zu am Landgericht Köln in Zeiten wachsender Gefahr von rechts.

      Das Schlusswort der Gerichtsreporterin lautet: »Ich gebe jedenfalls mein Ehrenwort, dass bei meiner Arbeit in den Gerichten deutsche Angeklagte die absolute Minderheit sind.«

      Ein Kessel Buntes, Fortsetzung:

      »572 Fälle von Genitalverstümmelung« seien allein in Hessen erfasst, meldet die Welt, die Dunkelziffer sei aber um ein Vielfaches höher zu veranschlagen: »In ganz Deutschland leben fast 50 000 weibliche Opfer von Genitalverstümmelung, wie eine Studie des Bundesfamilienministeriums im Jahr 2017 ergab. Verbreitet ist diese Praxis demnach unter anderem in Ägypten, Eritrea, Somalia, Äthiopien, Mali und dem Irak«.

       18. Januar

      Ein berühmtes Zitat aus Tocquevilles Großessay Über die Demokratie in Amerika beschreibt mit Falkenblick in die Zukunft die Art und Weise, wie die totalitär gewordene Demokratie ihre Opponenten dermaleinst liquidieren werde, ohne ihnen dabei ein Haar zu krümmen, nämlich durch den bürgerlichen Tod: »Der Machthaber sagt hier nicht mehr: ›Du denkst wie ich, oder du stirbst‹, er sagt: ›Du hast die Freiheit, nicht zu denken wie ich; Leben, Vermögen und alles bleibt dir erhalten: aber von dem Tage an bist du ein Fremder unter uns. Du wirst dein Bürgerrecht behalten, aber es wird dir nicht mehr nützen; denn wenn du von deinen Mitbürgern gewählt werden willst, werden sie dir ihre Stimme verweigern, ja, wenn du nur ihre Achtung begehrst, werden sie so tun, als versagten sie sie dir. Du wirst weiter bei den Menschen wohnen, aber deine Rechte auf menschlichen Umgang verlieren. Wenn du dich einem unter deinesgleichen nähern wirst, so wird er dich fliehen wie einen Aussätzigen; und selbst wer an deine Unschuld glaubt, wird dich verlassen, sonst meidet


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