Athanor 3: Die letzte Bastion. David Falk
aufgestiegen wie eine Erinnerung an den einst feuerspeienden Berg.
Nun lag der Ozean vor ihm, über den er vor nicht einmal zwei Monden gekommen war. Zwei Monde, seit Davaron Elanya ermordet hat. Es war lächerlich wenig Zeit, und doch kam es ihm vor, als seien Jahre vergangen. In der glutheißen Einöde schienen die Wälder Ardareas wie ein verblassender Traum. Ein Traum, in dem er eine Elfe geliebt hatte. Doch er sah ihre großen, grünen Augen nicht mehr – nur noch ihren Tod: das marmorweiße Gesicht mit den geschlossenen Lidern, umrahmt vom rotbraunen Haar.
Aus den Ruinen Sarnas tönte der Klang eines Horns herauf. Die Wächter auf den zerstörten Mauern warnten vor dem nahenden Drachen. Seit der Schlacht um die alte Ordensburg hatte sich zwar erst ein Mal ein Verbündeter Rakkathors zurück nach Dion gewagt, aber ohne Akkamas’ Hilfe hätte dieses eine Ungeheuer genügt, um die wenigen Überlebenden zu töten. Deshalb hatte Athanor einige Männer zu Wächtern bestimmt. Sobald ein Horn erklang, sollten die Menschen in die Kavernen unter der Stadt fliehen. Diese Gewölbe dienten als Zisternen, um den Winterregen für die trockenen Monde zu speichern, aber sie taugten auch als sicheres Versteck. Als die Drachen Sarna in Schutt und Asche gelegt hatten, waren ihnen dort unten einige Familien entgangen.
Akkamas beschrieb einen Kreis über der Stadt, damit ihn die Wächter erkennen konnten, während er immer niedriger flog. Kein anderer Drache leuchtete im Morgenlicht wie polierte Bronze. Erneut bliesen die Wächter ein Hornsignal. Gefahr vorüber.
Je tiefer der Drache ging, desto deutlicher sah Athanor die Zerstörung. Wenig mehr als einen Mond war es her, dass sich die Bewohner Sarnas in den Straßen gedrängt und auf den flachen Dächern ihrer Häuser gestanden hatten, um Vindur, ihm und ihren elfischen Begleitern zuzujubeln. Sie waren für ihren Sieg über eine Handvoll Nekromanten gefeiert worden, als hätten sie den Tod selbst bezwungen. Schon damals hatte Akkamas heimlich Gerüchte gestreut, dass Athanor der Kaysar, der rechtmäßige Herrscher aus der Alten Heimat über dem Ozean sei. Nichts hätte Athanor an jenem Tag ferner liegen können. Er war nur ein Rächer auf der Suche nach Elanyas Mörder gewesen. Und nun lag die Stadt in Trümmern, und die Menschen warfen sich vor ihm in den Staub.
Akkamas landete vor dem einst breitesten Stadttor. Es war das Einzige, durch das sie noch gehen konnten, ohne über einen Schuttwall zu steigen. Als sich Athanor vom Rücken des Drachen gleiten ließ, entdeckte er Mahanael auf den Resten der Stadtmauer. Einen besseren Wächter konnte Sarna nicht haben, denn der Elf besaß Augen wie ein Adler. Leichtfüßig kam er von den Trümmern herab, um sie zu begrüßen. Selbst für einen Elf war er ungewöhnlich groß und schlank. Seine fast schon durchsichtig wirkende Haut verriet das Blut der Abkömmlinge Heras, die ein besonderes Talent für Luftmagie besaßen. Athanor versuchte, aus Mahanaels Zügen zu lesen, ob etwas Wichtiges vorgefallen war, doch sein Freund lächelte nur.
»Ein guter Morgen«, rief der Elf. »Er bringt euch wohlbehalten zurück. Zumindest fast«, fügte er hinzu, als er den Spalt im Kettenhemd bemerkte. Darunter leuchtete der Verband zwischen blutgetränkten Stoffrändern hervor.
»Deinem scharfen Blick entgeht wirklich nichts«, stellte Athanor anerkennend fest.
»Sieht er aus wie eine Leiche?«, fragte Akkamas mit Drachenstimme.
Verblüfft musterte Mahanael Athanor. »Sollte er?«
»Er will mich bloß aufziehen«, wehrte Athanor ab. »Ich bin wohl noch mal davongekommen.«
»Dann habt ihr noch Nekromanten gefunden?«
»Fast zwei Dutzend. Die meisten davon in ihrer Festung, etliche Tagesritte von hier. Sind hier noch Untote umgegangen?«
Der Elf schüttelte den Kopf. »Nein, wir hatten die ruhigsten Tage, seit ich in Dion angekommen bin.«
Trotz seiner Erleichterung erkannte Athanor die Ironie in Mahanaels Worten. Von den sechs Elfen, die Dion betreten hatten, war nur noch Mahanael am Leben. Sich ruhigere Tage vorzustellen, fiel nicht schwer. »Dann wollen wir hoffen, dass mit den Magiern auch die Seelen ihrer Diener zum Dunklen gefahren sind.«
»Klingt, als ob ich hier eine Weile nicht gebraucht werde«, schätzte Akkamas.
»Willst du nicht noch ein paar Tage bleiben?«, fragte Athanor. Es fiel ihm schwer, sich an das unerwartete Kommen und Gehen des Drachen zu gewöhnen, denn sobald Akkamas verschwunden war, vermisste er das stille Einvernehmen unter Kriegern. »Du bist uns stets ein willkommener Gast.«
»Ihr habt schon ohne mich kaum noch genug zu essen«, erwiderte sein Freund. Die schwindenden Vorräte waren nicht zu leugnen. »Ich werde anderswo ein paar Gazellen jagen und den Himmel dabei im Auge behalten.«
»Es wird uns ruhiger schlafen lassen«, versicherte Athanor.
Akkamas entblößte die schwertlangen Drachenzähne zu einer Art Grinsen. »Wenn die Regentin dich schlafen lässt …«
Ist das zu fassen? In gespieltem Zorn drohte er dem Drachen mit dem Speer. »Verschwinde, bevor ich dich Respekt vor dem Kaysar lehre!«
Lachend schwang sich Akkamas in die Luft und ließ sie in einer Wolke aufgewirbelten Staubs zurück. Halb schmunzelnd, halb gereizt wischte sich Athanor den Dreck aus dem Gesicht. Er hatte ohnehin dringend ein Bad und eine Rasur nötig. Aber obwohl ihn Akkamas’ Anspielung amüsiert hatte, berührte sie einen wunden Punkt. Elanya ist tot. Ich kann es treiben, mit wem ich will. Doch warum freute er sich dann nicht darauf, Nemera wiederzusehen?
»Du siehst aus, als hättest du Schlaf nötig«, stellte Mahanael fest.
Athanor nickte und wandte sich der zerstörten Stadt zu. »Wir sind die ganze Nacht hindurch geflogen.«
Jenseits des Tors hatten sich mittlerweile einige Flüchtlinge versammelt, um den Kaysar, den Herrn über die Lebenden und die Toten, angemessen willkommen zu heißen. Männer, Frauen und Kinder säumten die Gasse durch den Schutt und fielen auf die Knie, als er näher kam. Athanor begriff nicht, wie sie ihn für einen Gott halten konnten. Er schwitzte wie sie, blutete wie sie, und über die Toten gebot er schon gar nicht.
Sobald sein grimmiger Blick in ihre Richtung schweifte, kauerten sie sich zusammen, dass ihre Stirnen den Boden berührten. Dieser Brauch musste aus der Zeit stammen, bevor die Schiffe aus der Alten Heimat gekommen waren. »Wie oft habe ich euch schon gesagt, dass ihr euch nicht in den verfluchten Dreck werfen sollt! Seid ihr nicht schmutzig genug?«
Hastig rappelten sie sich auf und sahen beschämt an sich herab. Kaum jemand von ihnen besaß mehr als die fleckigen, zerrissenen Kleider am Leib. Tag für Tag wühlten sie im Schutt nach Vorräten, richteten in den Ruinen notdürftige Unterkünfte ein und schleppten Wasser aus den Zisternen herauf. Athanor hätte sich selbst ohrfeigen können. Er war ein genauso beschissener Gott wie die anderen, die sich von den Menschen abgewandt hatten. Aber diese Schafe wollten ihn ja unbedingt. »Geht wieder an die Arbeit!«, fuhr er sie an und fühlte sich noch schlechter, als sie eilig gehorchten.
»Sind die Menschen in anderen Teilen der Welt denn … weniger unterwürfig?«, erkundigte sich Mahanael, während sie weitergingen. Vor seiner Ankunft in Dion hatte er nie einen Menschen zu Gesicht bekommen.
»Nein, sie waren …« … stolz. Theroier verneigen sich, aber sie erniedrigen sich nicht. Athanor wollte es sagen, doch es kam ihm nicht über die Lippen. Wem machte er eigentlich etwas vor? In seinen Erinnerungen war er stets nur von Freunden und Verwandten umgeben, von Kameraden, Kriegern von hohem Rang. Den anderen hatte er schlicht keine Beachtung geschenkt. Ihre Kniefälle am Wegesrand waren so selbstverständlich – und so bedeutungslos – gewesen wie die Bäume, die den Pfad säumten. »Ich habe sie nur nie wahrgenommen.«
Überrascht hob der Elf die Brauen.
»Sie waren mir fern«, versuchte Athanor, es zu erklären. »Es gab andere, die sich um die Belange des einfachen Volks gekümmert haben. Als Kronprinz hatte ich Wichtigeres zu tun.« Frauen nachstellen. Zur Jagd reiten. Einen Krieg anzetteln, der sie alle das Leben gekostet hat … »Ich wurde nicht dazu erzogen, die verdammte Verantwortung für sie zu übernehmen!« Und doch habe ich sie.
»Wir Elfen übertragen