Seewölfe Paket 26. Roy Palmer

Seewölfe Paket 26 - Roy Palmer


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Isabella Fuentes mit den Vorbereitungen für das Mittagessen beschäftigt.

      „Draußen ist es sehr ruhig geworden“, sagte Arne, noch in einen Folianten vertieft. „Die Ruhe vor dem Sturm, Jussuf?“ Dann hob er den Kopf und stutzte. „Was ist geschehen?“

      Auch Jörgen Bruhn bemerkte den düsteren Gesichtsausdruck des Türken sofort.

      „Irgend etwas stimmt mit dir nicht, Jussuf“, sagte er trocken. „Was, zum Teufel, hast du gesehen?“

      Jussuf zog sich einen Stuhl heran und ließ sich darauf sinken.

      „Könnt ihr euch das nicht vorstellen?“ murmelte er finster. „Ich habe die Hölle gesehen – oder besser, das, was die Hölle übriggelassen hat.“ Seine Stimme versagte. Etwas schien ihm die Kehle zuzuschnüren.

      Arnes Blick wurde starr.

      „Die Familie Herrera?“ flüsterte er tonlos.

      Jussuf nickte. Seine Lippen waren zusammengepreßt und schmal wie ein Strich.

      „Sie sind alle tot“, sagte er mit bebender Stimme. „Alle! Señora Herrera, die Hausgehilfinnen, die Kinder! Ja, auch die Kinder! Nicht einmal sie hat die Mörderbrut verschont. Und Señor Herrera hat offenbar versucht, sie noch mit seinem eigenen Körper zu schützen. Es hat nichts genutzt.“ Tränen standen in den Augen des Türken, als seine Stimme erneut erstickte.

      Minutenlang herrschte völlige Stille im Kontor der Faktorei.

      „Felipe Herrera war ein tapferer Mann“, sagte Arne von Manteuffel dumpf. „Die Bürgerschaft dieser Stadt ist mitschuldig an seinem und seiner Familie Tod. Wenn man seine Vorschläge angehört hätte, wäre es wahrscheinlich zu einem gut organisierten Widerstand gegen den Pöbel gekommen.“

      „Du hast davon berichtet“, murmelte Jörgen Bruhn. „In dieser famosen Besprechung hielten sie es für angebracht, einen Adligen als Versammlungsleiter zu wählen. Herrera war ihnen nicht gut genug.“

      „Dabei war er der tapferste von allen“, fügte Jussuf hinzu.

      „Es gab ein paar andere“, sagte Arne und blickte den Türken fragend an. „Regt sich nirgendwo mehr etwas?“

      Jussuf schüttelte den Kopf.

      „Sie sind alle tot. Alle. Herrera war für mich der schlimmste Anblick. Weil ich ihn kannte, und weil ich mir vorstellen kann, wie er sich selbst im Augenblick des Todes noch vor die Menschen gestellt hat, die ihm etwas bedeuteten.“

      Wieder wurde es still im Kontor des Handelshauses von Manteuffel, das in Wahrheit alles andere war, nur eben kein Handelshaus. Die geschäftlichen Tätigkeiten, die Jörgen Bruhn in seinen Folianten aufzeichnete, waren nur fingiert. Deshalb hatten Arne und Jörgen begonnen, die Vernichtung aller gefälschten Geschäftsunterlagen vorzubereiten. Wenn man gezwungen sein sollte, die Faktorei aufzugeben, dann durfte dennoch nicht ans Licht dringen, was sich hier wirklich abgespielt hatte.

      Die Brieftauben waren ein wesentlicher Bestandteil der Tätigkeit des vermeintlichen deutschen Handelsherrn von Manteuffel und seiner Mitarbeiter. Jussufs gefiederten Lieblinge hatten stets zuverlässig jene Nachrichten übermittelt, die Arne und seine Freunde für den Bund der Korsaren ausgekundschaftet hatten.

      Jetzt, wenn die Faktorei in Gefahr war, mußte Jussuf auch an seine Tauben denken. Würde man Zeit haben, sie fortzuschaffen, ohne daß ihnen etwas geschah? Oder sollte man sie einfach aufsteigen lassen, in der Hoffnung, daß sie allesamt zur Cherokee-Insel fliegen würden?

      Zweifellos würde das letztere die beste Lösung sein, und alle Tauben würden auch zu ihren Partnern in den Schlag finden. Dennoch konnten sich Arne und Jörgen vorstellen, welche Gedanken Jussuf angesichts des zerstörten Handelshauses der Compañia Herrera y Castillo durch den Kopf gegangen waren.

      „Wir sind also die letzten Überlebenden“, sagte Arne nach einer Weile. „Der Angriff in der vergangenen Nacht hatte wahrscheinlich den Zweck, auch uns den Rest zu geben. Wir müssen uns vor Augen halten, daß wir für die Horden von jetzt an ein Dorn im Auge sind. Ihre Angriffe werden noch heftiger werden.“

      „Zur Zeit ist es erstaunlich ruhig“, sagte Jussuf. „In den vergangenen Tagen, als der Pöbel schon mehr und mehr die Oberhand gewonnen hatte, war auch tagsüber immer irgendwo ein Geplänkel im Gange. Jetzt aber rührte sich nichts. Ich habe den Eindruck, als ob sie sich auf etwas Besonderes vorbereiten. Als ob sie zum großen Schlag ausholen.“

      Arne rieb sich das Kinn.

      „Du könntest recht haben, Jussuf. Ja, es liegt auf der Hand. Die Stadt und den Hafen haben sie praktisch vereinnahmt. Was ihnen noch fehlt, sind in erster Linie die beiden Forts und die Residenz. Die Forts sind uninteressant, weil es da wenig Beute zu holen gibt. Aber die Residenz! Das ist der Punkt.“

      „Da finden sie den versammelten Reichtum“, sagte Jörgen Bruhn und nickte. „Nicht nur die Wertgegenstände im Palast, sondern auch die Sachen, die die Bürger bei sich haben.“

      „Vor allem die Señoras“, sagte Jussuf.

      „Wie dem auch sei“, sagte Arne, „es mag traurig klingen, aber ein Angriff auf die Residenz könnte uns einen unverhofften Aufschub geben.“

      Er brauchte nicht auszusprechen, was er damit meinte. Den Freunden war es klar. An diesem Nachmittag würde die Brieftaube Aischa die Cherokee-Bucht erreichen. Es gab keinen Zweifel für Arne und seine Freunde, daß Hasard und die anderen sofort etwas unternehmen würden, um ihnen in Havanna zu helfen.

      Drei Tage konnten darüber vergehen.

      Über das, was sich beim Bund der Korsaren in der Cherokee-Bucht abspielte, konnten die Männer in der Faktorei nur Mutmaßungen anstellen. Fest stand aber, daß Hasard keinesfalls seinen „Mann in Havanna“ aufgeben würde. Diese Einrichtung, die ein exaktes Ausspähen aller spanischen Schiffsbewegungen ermöglichte, war für den Bund im wahrsten Sinne des Wortes Gold wert. Man würde also alles tun, um den als Faktorei getarnten Erkundungsposten beizubehalten.

      Arne und seine Freunde ahnten nicht, wie schlagkräftig die Unterstützung sein würde, die innerhalb weniger Stunden ankerauf gehen und Kurs auf Havanna nehmen würde. Sie wußten auch nicht, daß Old Donegal Daniel O’Flynn und seine Mannen von der „Empress of Sea“ vorübergehend verschollen waren, so daß Hasard eine Suchaktion mit der Hilfeleistung für Havanna verbinden würde.

      Noch am Nachmittag dieses 9. Juli sollten in der Cherokee-Bucht die „Isabella“, die „Le Griffon II.“ und die „Golden Hen“ in See gehen. Und sie sollten auf die „Empress“ stoßen, die sich ihnen mit Kurs auf Havanna anschließen würde.

      Es waren dreißig harte Burschen, mit denen Alonzo de Escobedo am frühen Nachmittag loszog. Er hatte sie ausgesucht, nachdem Bastida nicht mehr als vierzig Männer auf die Beine gebracht hatte. Zehn von den Figuren hatte de Escobedo ausgesondert, weil sie schon am Morgen eine Schnapsfahne gehabt hatten, die beileibe nicht von der vergangenen Nacht herrührte.

      Waffen und Munition führte de Escobedos kleine Truppe am Mann und auf Handkarren mit. Er wußte, daß das Gefängnis eine harte Nuß werden würde. Schließlich kannte er es gut genug, wenn auch mehr von innen.

      Der Gebäudekomplex lag etwa auf halber Entfernung zwischen Hafen und Residenz mitten im Stadtgebiet. Wie es dem Zweck eines Gefängnisses entsprach, war es festungsartig ausgebaut und weder von innen noch von außen so ohne weiteres zu überwinden. Ein massiver Steinbau, mauerumwehrt und mit wuchtigen Türen und Toren versehen.

      Als de Escobedo seiner Truppe auf der Straße vor dem Gefängnis das Kommando „Halt“ gab, erschauerte er unwillkürlich.

      Unter dem wolkenverhangenen Himmel von Havanna wirkte das Gefängnis düsterer und bedrohlicher, als er gedacht hatte. Ja, für einen Moment zweifelte er, ob er es sich überhaupt richtig überlegt hatte, als er beschloß, diese Festung anzugreifen. Aber er konnte nicht mehr zurück. Vor seinen eigenen Leuten und vor einem Heer von Schaulustigen hätte er das Gesicht verloren.

      Überall in den nahen Gasseneinmündungen


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