Seewölfe Paket 27. Roy Palmer
sicher eine ganz bestimmte Funktion.“
Auch darüber wußte sie Bescheid. Sie schien alles über Nan Madol und die Nachbarinseln zu wissen.
„Das dort drüben“, sie deutete auf ein kleineres Inselchen, „ist Pahn Kadira, wo die Reste des Tempels stehen. Es war eine verbotene Stadt, der Herrschersitz der Saudeleurs und gleichzeitig das Verwaltungszentrum. Hier feierten die Priester einmal im Jahr das Fest Arbungelap, um die neuen Boote zu weihen.“
Sie blickten alle hinüber. Auf der Insel standen Kokospalmen, unter deren schattigen Wedeln die Reste eines vormals stolzen Tempels zu sehen waren. Jetzt war die Pracht und Herrlichkeit der Herrscher vorbei. Geblieben waren nur die kümmerlichen Überreste von Ruinen.
Weiter ging es durch den Kanal bis zur nächsten künstlichen Insel.
Dort wuchsen Farne, und dort standen schattenspendende große Hibiskusbüsche mit ihren prachtvollen roten Blüten. Ein paar überwucherte Fundamente waren noch zu erkennen. Auch hier war die Pracht längst vergangen.
„Der Palast der Saudeleurs“, sagte sie ehrfurchtsvoll. „Hier residierten die damaligen Herrscher.“
„Sehr erstaunlich“, bemerkte Hasard. „Was mir auffällt, ist, daß es auf Nan Madol kein Trinkwasser gibt. Wie haben die Herrscher ohne Wasser gelebt? Oder waren sie auf Regen angewiesen?“
Ihr Blick war immer noch verträumt auf die Überreste des ehemaligen Palastes gerichtet.
„Nein, sie hatten keine Probleme mit dem Wasser. Sehen Sie die Einfassungen mit den breiten grauen Steinen?“
„Ja, es sieht aus wie ein größeres Becken, obwohl sich das kaum noch erkennen läßt.“
„Es waren auch künstlich angelegte Becken. Sie dienten nur dazu, sie mit Trinkwasser zu füllen.“
„Und wo nahm man das her?“
„Es wurde mit Booten von den anderen Inseln herangeschafft. Unzählige Menschen hatten nichts anderes zu tun, als die Wasserbecken immer wieder aufzufüllen. Haben Sie diese Insel betreten?“
Hasard verneinte das. Er wunderte sich darüber, wie gut dieses kleine Persönchen Bescheid wußte. Die Arwenacks waren immer wieder erstaunt, denn Raia hatte auf jede Frage eine Antwort.
„Dann ist es gut“, sagte sie erleichtert. „Wenn ihr die Insel betreten hättet, dürfte ich nicht in eure Nähe. Sie ist das größte Heiligtum weit und breit und wird nie betreten. Es heißt, daß man augenblicklich stirbt, wenn man die Herrscherinsel bei Nacht betritt.“
Das konnten sich die Arwenacks allerdings nicht vorstellen, aber Hasard ging nicht näher darauf ein. Es gehörte eben zu ihrer Religion, und sie glaubten daran. Dieser Aberglaube hielt alle davon ab, jemals einen Fuß auf die Insel zu setzen.
Die Fahrt durch dieses von unzähligen Kanälen durchzogene Insellabyrinth war abwechslungsreich und interessant. Noch nie in ihrem Leben hatten die Seewölfe etwas Ähnliches gesehen.
„Wie alt könnte die Ruinenstadt sein?“ fragte der Kutscher.
„Man spricht von achthundert Jahren und mehr. Aber sie ist in Wirklichkeit wohl noch älter.“
„Kaum zu glauben“, murmelte der Kutscher beeindruckt.
Eine weitere kleine und ebenfalls quadratisch angelegte Insel tauchte vor ihren Blicken auf. Hier gab es auch ein paar Seevögel, die dort offenbar nisteten. Ein ganzer Schwarm erhob sich und flatterte auf, als sie vorbeipullten.
„Das ist Kelepwel“, sagte sie unvermittelt. „Hier wohnten einst die königlichen Diener. Sie produzierten Kokosöl und lagerten es hier als Vorrat ein. Die nächste Insel heißt Toron. Jede Insel hat einen eigenen Namen. Toron hat sogar einen See.“
Das Staunen nahm kein Ende. Nan Madol steckte voller Überraschungen, und die wurden ihnen gleich massenweise geboten.
Es gab tatsächlich einen eingefaßten kreisrunden See, dessen Wasser spiegelglatt war.
„Da haben die Herrscher gebadet“, meinte Smoky, „damit sie von den Krokodilen verschont blieben.“
Die Südseeprinzessin schüttelte lächelnd den Kopf.
„In dem See wurden Venusmuscheln gezüchtet wie jene, die ich in dem Verlies fand. Diese Insel ist auch die Zeremonien-Insel. Hier wurde sehr aufwendig gefeiert, wie die Legende beschreibt. Aber der See hat noch ein weiteres Geheimnis.“
„Wenn man ihn nach Belieben leeren oder vollaufen lassen konnte“, meinte Hasard, „dann muß Nan Madol über ein System von Schleusen verfügt haben.“
„Was sind Schleusen?“
„Künstliche Kammern zur Wasserregulierung.“
„Ja, das hatten sie, das ist bekannt. Es waren große Steinkammern, die man an manchen Stellen sieht, wenn das Wasser sehr niedrig ist. Aber in dem See gibt es einen unterirdischen Tunnel. Er ist hundertmal länger als das spanische Schiff, das vor Ponape strandete.“
„Erstaunlich“, murmelte Hasard. „Warum hat man denn einen Tunnel in einem See gebaut?“
„Die Saudeleurs haben alles gut durchdacht und geplant. Der Tunnel führt zu einer Stelle außerhalb des Saumriffs. Von dort sind die Riff-Fische besonders gern bis in das Zentrum von Nan Madol geschwommen. Man brauchte nur das Wasser zu … ich weiß nicht, wie das heißt.“
„Regulieren“, half Hasard nach.
„Ja, wenn man das tat, hatte man die herrlichsten und besten Fische mitten im Zentrum.“
Ihr Spanisch hatte einen eigenartigen samtigen Klang, und manchmal stockte sie, wenn ihr ein Begriff nicht einfiel. Aber sie hatte von den gestrandeten Dons eine Menge gelernt. Auch der Häuptling Malahiwi könne sich in der „Sprache der Fremden“ einwandfrei verständigen, wie sie erklärte.
Dieses erstaunliche Geschöpf war mitunter von kindlicher Naivität, dann wieder sehr ernst, oder sie freute sich über irgendeine unbedeutende Kleinigkeit. Dann wieder erklärte sie mit großem Eifer alles, was die Arwenacks wissen wollten.
Nan Madol jedenfalls hatte es ihr angetan – und den Seewölfen auch, denn es war etwas Besonderes und Einmaliges, wie es das in der gesamten Südsee nicht mehr gab.
Es schien die Prinzessin auch nicht mehr im geringsten zu berühren, daß sie in Nan Madol fast ihr Leben verloren hätte. Sie verdrängte derartige bedrückende Gedanken ganz einfach und verbannte sie aus ihrem Gedächtnis.
Der Kutscher, der ein ganz besonderes Faible für Ruinenstätten oder alte Heiligtümer hatte, schüttelte immer wieder den Kopf und fand alles „unglaublich“.
„Das erinnert mich von der Präzision her fast an die alten Baumeister Ägyptens“, sagte er zu Hasard. „Die haben höher und wuchtiger, aber auch unglaublich exakt und kunstvoll gebaut. Hier ist es fast so ähnlich. Alles ist wohldurchdacht und hervorragend geplant … Es muß hier Handelsstationen, Versorgungseinrichtungen und Arbeitsplätze für Tausende von Menschen gegeben haben. Ein Jammer, daß das alles im Laufe der Jahrhunderte zugrunde gegangen ist. Ich wäre zu gern einmal durch diese Stadt gegangen.“
„Da hätten sie dir aber die Haut in Streifen von deinem – äh …“
Der Profos verschluckte seine letzten Worte, denn ihm fiel gerade noch rechtzeitig ein, daß er in Gegenwart der Prinzessin nicht von Affenärschen und dergleichen reden durfte. So lief er knallrot an und lächelte verlegen.
Raia lächelte, obwohl sie nicht begriff, was der Mann mit dem narbigen Gesicht und dem gewaltigen Kinn sagen wollte. Er wirkte zwar erschreckend, aber sie erkannte auch, daß er ein guter Mann war, der das Herz auf dem rechten Fleck hatte.
„Das hätte ich auch zu gern gesehen“, sagte Hasard. „Es muß ein phantastischer Anblick gewesen sein.“
Das Boot bewegte sich weiter an der nächsten Insel vorbei, die Pehikapw genannt wurde. Auch hier war vieles überwuchert.