Israel als Urgeheimnis Gottes?. Lukasz Strzyz-Steinert
integraler und mitkonstitutiver Teil der deutschen Gesellschaft und des Geisteslebens, ja als Deutsche, so mussten sie erleben, dass ihnen im veränderten Klima zuerst das Deutschsein, dann aber auch das Menschsein abgesprochen wurde. Binnen nicht einmal zweier Jahrzehnte beschritten die deutschen Juden den kollektiven Weg von einer Ernüchterung angesichts der gescheiterten Assimilation über den Verlust der bürgerlichen Rechte bis zur physischen Vernichtung. „Ich staune, daß Sie in dieser Luft atmen können“205, schreibt 1949 Gershom Scholem an Hans-Joachim Schoeps, einen der wenigen jüdischen Intellektuellen, die sich entschlossen haben, unmittelbar nach dem Ende des II. Weltkrieges nach Deutschland zurückzukehren. Dieser Raum der spezifischen Begegnung zwischen Juden und Christen sowie Juden und Deutschen ist sprichwörtlich untergegangen.
Die Debatte über die Gründe, Hintergründe und Abgründe dieser Entwicklung ist ufer- und bodenlos. Die wenigen Sätze, in denen ich die wichtigsten Etappen skizziert habe, sind nicht als Vereinfachung, sondern als Hinweis auf die dramatischen und vielfach verwobenen Bedingungen gedacht, unter denen Przywara dem Judentum begegnete. Nirgendwo wird deutlicher, dass es eine Welt der Brüche und Gegensätze gewesen ist.
In diese Periode fällt aber auch eine intensive Identitätssuche innerhalb des Judentums selber. Przywara begegnete nicht einem einheitlichen Judentum, sondern den Vertretern seiner Strömungen. In einem späten Aufsatz zeichnet Przywara die vielen Facetten des zeitgenössischen Judentums, mit dem er zeit seines Lebens in Berührung kam206. Es sind zuerst die famosen jüdischen Religionsphilosophen Herman Cohen, Martin Buber, Franz Rosenzweig und Leo Baeck, deren Werke er las und mit deren Thesen er diskutierte. Vor allem Leo Baeck war Przywara auch freundschaftlich verbunden, wovon ihre respektvollen und warmherzigen Briefe zeugen207. Kontrapunktisch zu der Strömung eines tendenziell liberalen und humanistischen Judentums erwähnt er aber seine Begegnung mit Hans-Joachim Schoeps, der den Plan ersann, „gegenüber dem liberalen westlichen Judentum, wie Moses Mendelssohn es begründet hatte, ein objektiv heroisches Judentum zu stellen“208. Er hegte sogar den „noch kühneren Gedanken“, „das ‚Heroische‘, wie der Nazismus es als seine ‚innere Religion‘ propagierte, in einem neuen Judentum als echt Heroisches zu erwecken“209. Unmittelbar nach dem II. Weltkrieg machte er sich zum schillernden Anwalt des Monarchismus, der Preußischen Tradition und der jüdisch-preußischen Symbiose.
Dem gegenüber erwähnt er aber seine jahrelange Bekanntschaft und Zusammenarbeit mit Edith Stein, die einer bereits weitgehend säkularisierten Familie entstammte210 und dann ganz bewusst ihren Weg in die Katholische Kirche fand. Edith Stein steht in diesem Zusammenhang zuerst für die vielen säkularen Juden sowie auch für diejenigen, die, sei es aus tiefer Überzeugung, sei es um der vollkommenen Assimilierung willen, christlich wurden. Aber auch sie wird in das Gegensatzgefüge mit Simone Weil eingespannt. Ihre Schriften, mit denen er wenige Jahre nach dem Ende des II. Weltkrieges in Berührung kam, wertet Przywara als eine genuin jüdische, prophetische Stimme in der Nachkriegszeit. Allerdings entstammte Simone Weil einerseits einer säkularisierten jüdischen Familie, andererseits distanzierte sie sich, nicht zuletzt durch scharfe antisemitische Äußerungen, von allem Jüdischen211.
An dieser Stelle geht es nicht um eine historische Rekonstruktion von Przywaras Kontakten mit den besagten Personen und Werken, die, soweit relevant, im Laufe der Arbeit themenbezogen berücksichtigt werden. Vielmehr möchte ich hier für den Aspekt von Przywaras Wahrnehmung des Judentums sensibilisieren. So muss z.B. am Anfang dieser Arbeit eine der entscheidenden Fragen lauten: Inwieweit kann der intensive Kontakt zu Edith Stein als Begegnung mit dem Judentum gelten?212 Diese Problematik verdeutlicht sich an Przywaras Aufsatzsammlung Ringen der Gegenwart aus den 20er Jahren, in der Przywaras Auseinandersetzung mit jüdischer Religiosität und Denken Judentum und Christentum zu finden ist. Die Positionen der schon erwähnten Denker werden dort als für das ganze Judentum repräsentativ besprochen. Ganz unabhängig davon bedankt sich Przywara im Vorwort besonders bei zwei Personen, die ihm „durch mancherlei Anregungen und Aussetzungen zur Gestalt dieser Sammlung mitgeholfen haben“213, Edmund Husserl und Edith Stein. Beide sind jüdischer Abstammung. Man hat aber nicht den Eindruck, Przywara sah sie damals im Kontext seiner Beschäftigung mit dem Judentum. Um noch ein Beispiel heranzuziehen: Przywaras Denken in Zeiten der „katholischen Wende“ und darüber hinaus vollzieht sich unter dem Einfluss der Phänomenologie, deren Vertreter und deren Positionen zitiert, positiv oder ablehnend besprochen werden. Erst in den 50er Jahren spricht Przywara im Hinblick auf drei Philosophen jüdischer Abstammung und christlichen Bekenntnisses – Georg Simmel, Edmund Husserl und Max Scheler – über die „drei großen vergessenen Juden“214 und interpretiert ihr phänomenologisches Denken vor diesem Hintergrund. Im Hinblick auf all diese Personen fällt auf, dass ihr Jüdischsein von Przywara erst spät thematisiert und als einer der symbolischen Momente der Begegnung mit dem „Mysterium Israel“ gedeutet wird, in denen das „wesentlich Sachliche, das durch sie hindurch-tönt“, der „jüdische […] Geist“215, zugänglich wird.
Das Wichtigste dazu kann man folgendermaßen formulieren: In Przywaras Welt sind Juden und Mitbürger jüdischer Abstammung bedeutsam, insofern es verschiedene Strömungen innerhalb des Judentums, säkulare Juden und solche, die einer christlichen Konfession beigetreten sind, gibt. Aber es gibt auch das Jüdische schlechthin, dem Przywara in zahlreichen Vorstellungen, Theorien oder Vorurteilen, die alle den Juden an sich oder das Jüdische auf den letzten Punkt bringen und im Ganzen der Wirklichkeit verorten wollen, begegnet. Das Spektrum reicht hier von biblischen, patristischen und weiteren theologischen und kirchlichen Äußerungen der Ära vor Nostra Aetate, über die Meinung der Aufklärung, die die gesellschaftliche Gleichstellung der Juden förderte und gleichzeitig für die jüdische Religiosität nichts übrig hatte, bis zu politischen Kampfparolen und vulgären, rassistischen Beschimpfungen216. Nichts scheint an Przywara spurlos vorbeigegangen zu sein. In seinem Bemühen, das Mysterium Israel zu deuten, ist er ein Kind seiner Zeit und bleibt in ihr einerseits bedenklich verhaftet, um andererseits ganz neue Denkhorizonte zu erahnen und aufzuzeigen.
Stellt man sich aber die Frage nach dem spezifischen Blickwinkel, aus dem Przywara seine Welt und darin die Juden und das Jüdische betrachtete, so müssen wir noch einmal auf seine Äußerung über die Kindheit und Jugend in Kattowitz zurückkommen. Przywara wuchs in einem „urkatholische[m] Elternhaus“ auf, aber „in der freidenkerisch-liberalen Umwelt des damaligen Kattowitz von Handel und Industrie“. „Interkonfessioneller Kindergarten, Simultan-Mittelschule und das freimaurerisch-jüdische Gymnasium waren die Stätten“, an denen sein Katholizismus „sich früh seiner selbst bewußt ward“217. Zweifelsohne kam Przywara mit bestimmten Aspekten des spezifisch katholischen Antijudaismus und der katholischen Wahrnehmungsweise des jüdischen Einflusses auf die Gesellschaft in Berührung, die mit der generellen katholischen Haltung zu Fragen des politischen und kulturellen Lebens zusammenhingen. Hier und da sahen sich die Katholiken im Kulturkampf einem gemeinsamen Angriff des liberalen Protestantismus und Judentums ausgeliefert, was sich z.B. in einigen anti-jüdischen Stimmen in den katholischen Zeitschriften niederschlug218. Gelegentlich wurde auch die Benachteiligung der Katholiken im Kulturkampf mit der früheren Verfolgung der Juden verglichen219. Unmittelbare Begegnungen zwischen Juden und Katholiken waren rar. Im Rückblick auf die braunen Jahre schrieb der mit Przywara befreundete Reinhold Schneider: „Am Tage des Synagogensturmes hätte die Kirche schwesterlich neben der Synagoge erscheinen müssen. Es ist entscheidend, daß das nicht geschah“220.
Um die Welt zu verstehen, in der der katholische Theologe und Religionsphilosoph Erich Przywara auf das Judentum und darüber hinaus auf das Mysterium Israels blickt, möchte ich die bewusst kontrovers formulierte These des jüdischen Religionsphilosophen Jacob Taubes zitieren. Es scheint mir umso angebrachter, als Taubes einer der wenigen, dazu noch jüdischen, Intellektuellen war, die für Przywaras Alterswerk Interesse zeigten, wofür seine Briefe zeugen, auf die ich in Przywaras Nachlass stieß. Diese Korrespondenz erfährt eine rätselhafte Wende. Der erste Brief Taubes‘ ist vom Interesse an Przywaras Werk, aber auch von spürbarem Schmerz geprägt. Przywara rede, so Taubes, über alle möglichen Erscheinungsformen des Dämonischen in der Welt, verschweige aber das Schicksal der Juden und die Verantwortung der Deutschen in diesen Jahren221. Przywaras Antwort auf diesen Brief ist ausweichend: