Bildungswertschöpfung. Walter Schöni

Bildungswertschöpfung - Walter Schöni


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Positionen anerkannt ist oder bestehende Berufsgruppen neue Funktionen übernommen haben. Mit der Öffnung ehemals regulierter Beschäftigungsbereiche und Rekrutierungspraktiken entsteht für die Beschäftigten eine neue Herausforderung: ein marktgängiges, von Arbeitgebern künftig nachgefragtes Kompetenzportfolio zu finden und den für den Kompetenzerhalt im Beruf erforderlichen Weg selber zu definieren – mit allen Unwägbarkeiten, die dies am Arbeitsmarkt mit sich bringt (Hall 2007). Mehr Transparenz am Weiterbildungsmarkt, die Anschlussmöglichkeiten, aber auch Chancen und Risiken eines Weiterbildungsentscheids sichtbar macht, wäre daher umso wichtiger.

      Öffnung und Deregulierung rufen jedoch auch ordnende, standardisierende Kräfte und Regulierungen wieder auf den Plan. Bei der Personalrekrutierung gewinnen in den letzten Jahrzehnten formalisierte und international zertifizierte Qualifikationsstufen und Kompetenzprofile stark an Bedeutung, so z. B. in der medizinisch-therapeutischen Versorgung, in Marketing- oder kaufmännischen Funktionen, im Personalwesen oder beim Ausbildungsfachpersonal. Die Stufen der Berufsbildung[3] sind nicht mehr vorrangig durch die Tiefe des Fachwissens und durch Praxis­expertise im Berufsfeld definiert, sondern zunehmend durch formale Kompetenzniveaus und Ordnungskriterien, die vom Ausbildungssystem und institutionellen Anbietern vorgegeben werden. Das dadurch bescheinigte Kompetenzniveau gibt dem Arbeitgeber berufsübergreifend Anhaltspunkte für die Einschätzung der Leistungsvoraussetzungen der Person, über die Eignung im Einsatzbereich sagt es jedoch wenig aus.

      Die neuen Qualifikationsordnungen beeinflussen die Funktionsweise der (deregulierten) Arbeitsmärkte in ambivalenter Weise. Zum einen können sie eine genauere Abstimmung zwischen Angebot und Nachfrage an Teilarbeitsmärkten ermöglichen, was rekrutierenden Unternehmen zugute kommt, ebenso Arbeitsuchenden, die sich «arbeitskraftunternehmerisch» verhalten. Zum anderen können differenzierte Abstufungen den Rekrutierungsprozess jedoch erschweren, weil sie Erwartungen an eine genaue Passung des Qualifikationsprofils wecken, während die Eignung für einen Einsatzbereich möglicherweise von ganz anderen Faktoren abhängt. Dies kann die Flexibilität der Arbeitsmarktfunktionen einschränken (vgl. Kapitel 3.1). Auch im Zeitalter geregelter, zertifizierter Qualifikation muss sich der Arbeitsmarktwert von Ausbildungsabschlüssen aufgrund der tatsächlichen Verwertbarkeit in Beruf und Betrieb erweisen.

      Deregulierte Arbeitsmärkte tendieren nicht notwendigerweise zum Ausgleich von strukturellen Schranken und Benachteiligungen. Segmentierende und sozial selektive Funktionen bleiben oft erhalten, sie können durch differenzierte Qualifikationsordnungen sogar noch verstärkt werden. Diese ersetzen zwar überkommene berufsständische Berechtigungen durch »leistungsbasierte« (sofern ein Bildungsabschluss ein tauglicher Leistungsindikator sein kann) und sind insofern gesellschaftlich legitimer. Sie verbessern aber nicht die Chancen jener Gruppen, die in ihrer Erwerbslaufbahn die Pflege des eigenen »Kompetenzportfolios« nicht habitualisiert haben, die Qualifikationsstufen mit höherem Arbeitsmarktwert gar nicht erreichen und durch das Selektionsraster fallen. Dies gilt beispiels­- weise für

      –Berufsleute, deren Fachqualifikation durch technische Innovation oder durch den Wandel im Berufsfeld entwertet wird und die gezwungen sind, in weniger qualifizierte Tätigkeiten außerhalb des erlernten Berufs zu wechseln;

      –Geringqualifizierte, die langjährig »einfache« Tätigkeiten ohne Ent­wick­lungs­möglichkeiten verrichten, leicht ersetzbar sind und oft in Prekär­arbeitsbereiche abgedrängt werden;

      –Langzeitarbeitslose, Migrantinnen und Migranten, die wegen Nichtanerkennung ihres Abschlusses, wegen wirtschaftlicher Restrukturierung oder Diskriminierung kaum Zugang zu einer Berufs- oder Bildungslaufbahn finden.

      Wenn sich die neuen Segmentierungslinien verfestigen, stößt die Flexibilität des Arbeitsmarktes somit erneut an Grenzen. Die Arbeitsmarktpolitik reagiert auf solche Schranken und Risiken mit sogenannten aktivierenden Maßnahmen, deren Ziel es ist, die Arbeitsmarktfähigkeit von »Problemgruppen« zu verbessern unter Androhung finanzieller und sozialversicherungsrechtlicher Sanktionen (Magnin 2005). Aktivierende Maßnahmen ermöglichen im positiven Fall individuelle Übertritte in stabilere Erwerbsbereiche. Sie lassen jedoch die Problemzonen des Arbeitsmarkts – Beschäftigung ohne Entwicklungsperspektive, Tieflohnbereich, Dequalifizierungstrend – unangetastet. Darüber hinaus stimulieren sie die Nachfrage nach einseitig adaptiver Weiterbildung und beeinflussen so den Einsatz staatlicher Mittel in der Weiterbildungsförderung (Winkler 2007). Dies verstärkt die Segmentierung im Weiterbildungsangebot (vgl. Kapitel 3.4).

      Zwischen der Wirtschafts- und Arbeitsmarktdynamik auf der einen und dem Bildungssystem auf der anderen Seite bestehen komplexe Wechselwirkungen, keine einfachen Kausalbeziehungen. Weder ist die Wirtschaft in der Lage, die berufliche Bildung der Arbeitskräfte nach eigenen Bedürfnissen direkt zu steuern, noch vermag das Bildungssystem seine Weiterentwicklung in konsistenter Weise zu lenken, sei es auf eigene Ziele hin oder auf solche der Wirtschaft. Dennoch haben einige Reformen zu mehr Kohärenz geführt. Durchschlagende Wirkung zeigen aber vor allem die regulierenden Kräfte der nationalen und internationalen Bildungspolitik. Diese gibt zunehmend Standards vor, welche bei größeren Bildungsreformen als Leitlinie dienen und längerfristig auch die Erwartungen der Wirtschaft beeinflussen. Standards betreffen etwa die Modularisierung von gestuften Bildungsgängen, die Ausrichtung der Curricula an messbaren Kompetenzen, die einheitliche Leistungsbewertung oder die Qualitätssteuerung. Solche regulativen Instrumente finden auch in der berufsorientierten Weiterbildung Anwendung. Es stellt sich indessen die Frage, ob damit die Steuerbarkeit und der gesellschaftliche Nutzen des Bildungssystems verbessert werden.

      Der Wandel von Arbeitsverhältnissen und Arbeitsmärkten stellt neue Anforderungen an die Curricula in der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Er gibt Impulse für die inhaltliche Gestaltung und Neuordnung von Ausbildungsbereichen. Das Bildungssystem nimmt sie auf und setzt sie in Veränderungsprozessen um, die durch systemeigene Ordnungen, Funktionslogiken und Zeithorizonte geprägt sind. Immerhin führten Reforminitiativen der letzten Jahrzehnte auch in der Schweiz dazu, dass Berufsausbildungen weniger eng definiert und im Berufsfeld breiter abgestützt sind, beispielhaft die Polymechanik-Ausbildung. Die berufliche Grundbildung wurde neu gestuft (Berufsattest und Fähigkeitszeugnis); für den beruflichen Bildungsweg wurde der Hochschulzugang via Berufsmaturität bzw. Fachabitur geschaffen; Fachschulausbildungen wurden auf das Hochschulniveau verlagert (z. B. im Fall von Gesundheitsberufen), und das Hochschulsystem wurde auf die zweistufige Bologna-Struktur umgestellt. Schließlich wurden neue Verfahren definiert, die den Nachweis und die formale Anerkennung von erworbenen beruflichen Kompetenzen auf alternativen Wegen erlauben (z. B. Kompetenzbilanzierung im Bereich der Grundkompetenzen, Gleichwertigkeitsbeurteilung in der höheren Berufsbildung).

      Die Reformen verstehen sich als Antworten auf gesellschaftliche Anforderungen. Sie erfolgen aber nicht geradlinig, sondern bewegen sich in bestehenden Ordnungssystemen und entfalten auch unbeabsichtigte Wirkungen. Denn neue Bildungswege und Zugänge zu beruflichen Positionen stellen ganze Qualifikationshierarchien infrage und führen regelmäßig zu Abgrenzungsproblemen bei etablierten Qualifikationsgruppen. Rückblickend kann man aber doch feststellen, dass die Rationalität des beruflichen Bildungssystems in den letzten Jahrzehnten in einigen Punkten verbessert wurde, auch wenn die Reformen komplex, schwer zu steuern und oft umstritten waren:

      –Das Bildungssystem ist durchlässiger geworden und nimmt neue Bedarfe im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld rascher auf.

       Beispiele: Hochschulzugang über den beruflichen Bildungsweg; Anerkennung des erfahrungsbasierten Kompetenzerwerbs in geregelten Nachweisverfahren.

      –Curricula werden in der Tendenz nachvollziehbarer


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