Litersum - Musenfluch. Lisa Rosenbecker

Litersum - Musenfluch - Lisa Rosenbecker


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gleich vorbeigekommen bist.«

      »Ich würde wirklich gern mehr tun, wenn ich könnte.«

      Er zuckte mit den Schultern. »Solange du nicht weißt, wo das Mädchen ist, sehe ich da aktuell keine Möglichkeit.«

      »Können wir denn nichts anderes tun, um festzustellen, wo sie sich aufhält, als herumzufragen und zu warten? Wer weiß, was in der Zwischenzeit mit ihr passiert.«

      »Nicht dass ich wüsste.«

      Der kleine Funken Hoffnung, der bei der Idee mit Mnemosyne in mir erwacht war, erlosch. Zähneknirschend stemmte ich mich aus dem Stuhl und wandte mich an Noah, um mich zu verabschieden. Doch der Erfinder beachtete mich gar nicht. Seine Augen waren zusammengekniffen, der Mund stand leicht offen. Seine Hände ruhten auf den Oberschenkeln. Schmunzelnd betrachtete ich ihn. Das sah irgendwie süß aus. George räusperte sich und ich schrak zusammen.

      »Spuck es aus, Carver.«

      Noah nickte abwesend. Er zog die Tastatur zu sich und tippte etwas ein. Ich sank zurück auf den Stuhl und rutschte näher an ihn heran.

      »Was tust du?«, fragte ich. Seine Augen richteten sich auf mich. Sie wurden eine Sekunde groß, als wäre er überrascht darüber, dass ich noch da war.

      »Was weißt du über die Auren?«, wollte er wissen.

      »Was für Auren? Ah, meinst du die, die im Knotenpunkt gescannt werden? Wenn ja, dann war das auch schon alles.«

      »Fangen wir also bei null an«, sagte er, diesmal ohne tadelnden Unterton.

      George kam um den Tisch herum und blieb hinter uns stehen. »Du meinst, du kannst sie darüber lokalisieren?«

      »Vielleicht«, antwortete Noah. Er drehte sich zu mir. »Jeder Buchcharakter besitzt eine individuelle Aura. Man kann sie nicht sehen, aber sie ist da. Im Litersum dient sie als Ausweis. Damit kann ein Charakter Genehmigungen und Tickets für einen Besuch in einer anderen Welt, echt oder fiktiv, beantragen. Scanner an den Türen zentraler Stellen wie dem Knotenpunkt, den ZwiBis, einigen wichtigen Buchwelten und Orten in der realen Welt lesen diese Aura außerdem aus. Nach dem Vorfall vor einem halben Jahr hat sich Mnemosyne dazu entschlossen, diese Scanner an jeder Tür in jeder Welt anzubringen, von der aus man Zugang in andere Bereiche des Litersums und unseres Universums hat, also alle Buchläden und Bibliotheken, beispielsweise auch an der von Books by Bea. So lässt sich der Weg eines jeden Einzelnen genau nachverfolgen. Bureal-Kinder sind davon ausgenommen, denn unsere Aura entspringt beiden Welten und kann nach wie vor nicht ausgelesen werden. Das schafft selbst Mnemosyne nicht. Warum auch immer, aber etwas an uns entzieht sich sogar ihrer Kontrolle.«

      »Und wie ist das bei Menschen?«

      »Genau das ist der Knackpunkt. Ich weiß es nicht. In den Vorlesungen an der Akademie hat man uns beigebracht, dass Menschen entweder keine haben, weil es in ihrer Welt nichts Magisches gibt, oder aber sie nicht messbar sind. Nach allem, was in der letzten Zeit passiert ist, weiß ich jedoch nicht, was ich davon halten soll. Vielleicht hat sich durch die Eingriffe von Mnemosyne auch hier etwas geändert.« Noah gab ein paar Dinge in ein kryptisch aussehendes Programm ein, das als Antwort eine kurze Liste ausspuckte. »Das sind die Aurenscanner-Daten der Tür von Books by Bea. Wie man sieht, wurde Georges Besuch gestern aufgezeichnet, meiner nicht, weil der Scanner mich nicht erfassen kann. Außerdem wurden einige Übertritte anderer Buchcharaktere registriert, sonst aber nichts. Du tauchst nicht auf und auch deine Blogger nicht. Offensichtlich sind die Scanner noch nicht in der Lage, menschliche Auren zu scannen, sofern diese überhaupt eine haben. Das Mädchen über diesen Weg zu finden, können wir also vergessen.«

      Noah schob die Tastatur von sich und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, die Arme vor der Brust verschränkt.

      George legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Tut mir leid. War aber eine gute Idee.«

      »Ich hatte schon bessere.«

      »Wie habt ihr denn die anderen Mädchen aufgespürt?«, fragte ich.

      George war es, der mir antwortete. »Wir gar nicht. Man hat uns gerufen, nachdem ein paar Buchcharaktere sie fanden. Auch wir wissen um die Besonderheit der Augen und dass sich unsere von denen der Menschen unterscheiden. Spiegel der Seele und so … Und bei diesen Mädchen war ganz klar zu erkennen, dass sie nicht hierhergehörten. Vom Äußeren her, dafür steckte zu viel Leben in ihren Augen, und aufgrund der Tatsache, dass sie keine Ahnung hatten, was das Litersum ist. Bureal-Kinder konnten es also auch nicht sein.«

      Unwillkürlich huschte mein Blick zu Noah. Zu seinen Augen. Verdammt, ich war wie besessen von ihnen. Ich brauchte dringend Zucker, der würde mich sicherlich wieder auf die richtige Bahn lenken.

      »Hättet ihr was zu trinken für mich? Eine Cola vielleicht?«

      »Kommt sofort.« George drehte sich um und entfernte sich von uns.

      »Danke!« Ich tippte mit den Fingern auf der Stuhllehne. »Mal angenommen, es wäre möglich, eine menschliche Aura im Litersum aufzuspüren. Dann könnten wir doch aktiv nach dem Mädchen suchen gehen, oder?«

      »Wir?«, fragte Noah und richtete sich auf.

      »Wir im Sinne von ihr. Angehörige des Litersums.«

      Er runzelte die Stirn. Seine Nase zog sich kraus, während er über meine Worte nachdachte. »Ja. Ja, es wäre möglich, das Mädchen so zu finden. Je nachdem, wie sensitiv und reichweitenstark das System ist, mit dem man die Spur der Aura verfolgt. Allerdings wäre Mnemosyne die Einzige, die das einrichten könnte, und sie steht nicht zur Verfügung.«

      »Mhm.«

      In dem Moment kam George mit einer Cola zurück. Mein Magen grummelte, kurz bevor ich sie ihm abnahm, der Deckel zischend nachgab und ich sie beim ersten Ansetzen halb leer trank. Oh ja, das hatte ich gebraucht. Zufrieden und laut seufzend stellte ich die Dose auf dem Schreibtisch ab. Die Gesichtsausdrücke von George und Noah schwankten zwischen Unglauben, Belustigung und peinlicher Berührtheit.

      »Ein Laster muss der Mensch haben«, erwiderte ich.

      »Je ungesünder, desto besser?«, wollte Noah wissen.

      Sein Kollege stieß ihm gegen den Arm. »Lass sie. Sie ist alt genug. Außerdem hast du mit deinen …«

      »Danke, George, das reicht.« Noah wedelte mit den Händen, und George verstummte, ein Schmunzeln auf den Lippen. Nein, ich war jetzt gar nicht neugierig geworden.

      Schnell trank ich auch noch die andere Hälfte der Cola aus, bevor mir die beiden den Spaß daran verderben konnten. Dabei kreisten meine Gedanken um Auren, Scanner und verlorene Menschen …

      »Sagt mal, wie findet ihr einen Buchcharakter, wenn er in der echten Welt verloren geht? Ich weiß, dass sie nach einiger Zeit von selbst in das Litersum zurückgezogen werden. Aber angenommen, jemand müsste frühzeitig zurückgeholt werden. Wie spürt ihr ihn auf?«

      »Noch gar nicht«, antwortete Noah. »Dafür gibt es aktuell keine Lösung, diese ist aber in Arbeit und …«

      George beugte sich zu mir herunter und deutete mit dem Finger auf Noah. »Schau genau hin. So wird eine Idee geboren.« Hinter vorgehaltener Hand lachte ich, als Noah mit den Augen rollte und George naserümpfend ansah.

      »Nicht mal im Entferntesten«, erwiderte er. »Das war ein Einfall, mehr nicht. Eine Idee, eine echte Idee, macht sich ganz anders bemerkbar.« Für einen Moment glaubte ich, dass er noch mehr dazu sagen wollte, doch dann verstummte er. Seine Schultern sackten herab und die Lippen waren nicht mehr als ein dünner Strich. Er wandte den Blick ab. »Wie dem auch sei. Danke, dass du Bescheid gegeben hast, Riley, den Rest übernehmen wir. Sollten wir noch mal deine Hilfe benötigen, melden wir uns.«

      Es war, als würde mir alle Luft aus der Lunge gepresst. Nein, er musste mir nicht verraten, was er nun tat, eigentlich sollte es mir auch egal sein. Er würde seine Sache sicher gut machen und das Mädchen finden. Aber … ich war enttäuscht darüber, nicht mehr zu erfahren. Und überrascht, dass ich enttäuscht war. Das Ziel, mir die beiden vom Leib zu halten, hatte


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