Dr. Daniel Staffel 7 – Arztroman. Marie Francoise
stieß Christina hervor, war aber nicht sicher, ob sie den Namen wirklich ausgesprochen oder nur noch gedacht hatte, denn sie hörte seine Stimme fragend rufen: »Hallo? Wer ist denn da?«
»Rudi!« Mit letzter Kraft schrie sie seinen Namen, doch es wurde nur ein heiseres Flüstern. »Rudi… hilf mir…« Dann versank sie in undurchdringlicher Finsternis.
*
Wie betäubt stand Rudi Keller neben dem Telefon. Ein heiseres Stöhnen war das einzige, was an sein Ohr gedrungen war, und doch hatte er irgendwie das Gefühl, als hätte er gerade Christinas Stimme gehört.
»Unsinn«, murmelte er sich zu, legte den Hörer auf und wollte schon wieder zu Bett gehen, doch der seltsame nächtliche Anruf ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.
Er zog Jeans und Pulli über seinen Schlafanzug, stieg in sein Auto und fuhr zu dem Haus, wo Christina ihre kleine Wohnung hatte. Er blickte die Fassade empor, doch oben war alles dunkel.
Sie erklärt mich für verrückt, wenn ich sie mitten in der Nacht aus dem Bett klingele, dachte er, dennoch gelang es ihm nicht, seine innere Unruhe zu unterdrücken. Wieder rief er sich die Geräusche am Telefon in Erinnerung, dann ging er um das Haus herum. In einem Raum von Christinas Wohnung brannte Licht, und Rudi wußte, daß es das Badezimmer war. Sollte vielleicht doch irgend etwas nicht in Ordnung sein?
Er zögerte noch kurz, dann drückte er auf den Klingelknopf, aber auch nach dem zweiten und dritten Klingeln rührte sich nichts. Rudis Unruhe wuchs. Inzwischen war er fast überzeugt, daß etwas nicht in Ordnung war. Er holte das Schlüsselbund aus der Tasche, an dem noch immer Christinas Wohnungsschlüssel hing. Eigentlich hatte er ihn ihr ja längst zurückgeben wollen…
Hastig schloß Rudi die Haustür auf, lief die Treppe hinauf und öffnete dann die Wohnungstür.
»Chrissie?« rief er fragend, doch er bekam keine Antwort. Er tastete nach dem Lichtschalter. Die Lampe im Flur flammte auf, und im selben Moment sah er sie. Zusammengekrümmt lag sie im Wohnzimmer am Boden. Der Telefonhörer war ihrer Hand entglitten.
Mit zwei Schritten war Rudi bei ihr.
»Chrissie! Um Himmel willen…«
Er riß den Telefonhörer an sich, blätterte hastig im Telefonbuch und wählte dann die Nummer der Waldsee-Klinik.
»Keller!« stieß Rudi hervor, als sich die Nachtschwester meldete. »Meine Freundin…« Für einen Moment kam ihm zu Bewußtsein, daß Christina eigentlich gar nicht mehr seine Freundin war, »sie ist bewußtlos… und sie ist schwanger…«
»Beruhigen Sie sich, Herr Keller«, drang Schwester Irmgards Stimme an sein Ohr. »Sagen Sie mir bitte den vollen Namen und die Adresse ihrer Freundin. Ich schicke Ihnen sofort einen Krankenwagen.«
Rudi hatte Mühe, sich zu konzentrieren, weil ihn die Angst und Sorge um Christina schier um den Verstand brachten. Es dauerte keine zwei Minuten, bis der Krankenwagen mit blinkendem Blaulicht vor dem Haus stand. Außer den Sanitätern war auch die Gynäkologin der Klinik, Dr. Alena Reintaler, mitgekommen, die sich nach der Operation von Diana Wieland noch in der Klinik befunden und mitbekommen hatte, daß es um eine schwangere Patientin ging.
Jetzt erkannte sie, wie sehr es eilte.
»Kann ich mitkommen?« fragte Rudi atemlos. Alena nickte nur, während sie den Sanitätern nach unten folgte. Kaum im Krankenwagen, nahm sie sofort eine Messung von Blutdruck und Puls vor, dann schloß sie mit geübten Bewegungen eine Infusion an. Rudi – noch immer starr vor Angst und Anspannung – sah ihr zu und bemerkte, daß sie genau wußte, was zu tun war. Das beruhigte ihn ein wenig, wenn ihm Christinas anhaltende Bewußtlosigkeit auch große Sorgen machte.
»Was… was ist mit ihr?« fragte er zaghaft.
»Sie hat einen Schock erlitten«, antwortete Alena. »Die Ursachen können vielfältig sein, aber das werden wir in der Klinik gleich feststellen.«
Rudi schluckte schwer, dann streckte er eine Hand aus und berührte Christina sanft. Im selben Moment hielt der Krankenwagen mit einem Ruck an. Erschrocken zog Rudi seine Hand zurück. Da wurden die Hecktüren aufgerissen, und die Sanitäter zogen die Trage heraus.
»Heute herrscht hier wirklich Hochbetrieb«, stellte einer von ihnen fest, während er die Räder der Trage nach unten klappen ließ und zusammen mit seinem Kollegen die Patientin in die Notaufnahme schob.
»Irmgard, rufen Sie Dr. Daniel herunter«, ordnete Alena an. »Ich nehme an, er ist noch auf der Intensivstation.«
Es dauerte keine Minute, bis Dr. Daniel zur Stelle war. Alena informierte ihn in knappen Worten über das, was sie bis jetzt wußte. Dr. Daniel hatte aufgrund der Symptome sofort einen konkreten Verdacht, der sich durch eine Ultraschallaufnahme bestätigte.
»Eine vorzeitige Plazentaablösung«, erklärte er, dann wies er die beiden Sanitäter an: »Bringen Sie die Patientin sofort wieder in den Krankenwagen. Wir müssen schnellstens nach München.«
Rudi erschrak. »Bis nach München? Aber sie ist doch bewußtlos!«
»Eben deswegen«, entgegnete Dr. Daniel knapp, dann wandte er sich Alena zu. »Rufen Sie bei Dr. Sommer an – privat. Sagen Sie ihm bitte, daß ich mit einer Notfallpatientin zu ihm unterwegs bin. Neunundzwanzigste Schwangerschaftswoche, vorzeitige Plazentaablösung, kindliche Herztöne momentan noch stabil, kann sich aber jederzeit ändern.«
»Darf ich mitkommen?« fragte Rudi, als Dr. Daniel schon zum Krankenwagen unterwegs war.
»Ja, beeilen Sie sich.«
Die Hecktüren schlugen hinter Rudi zu, dann brauste der Krankenwagen los.
»Ist das sehr gefährlich?« fragte Rudi.
»Ja«, gab Dr. Daniel zu. »Und zwar sowohl für das ungeborene Kind als auch für die Mutter. Die sich ablösende Plazenta blutet überwiegend nach innen, so daß der genaue Blutverlust bis zur Operation nicht abzuschätzen ist. Dazu kommt, daß auch das Kind bluten kann. Nur ein sofortiger Kaiserschnitt kann beide retten.«
Rudis Hände begannen zu zittern. »Warum fahren wir denn dann noch nach München? Ich meine… die Waldsee-Klinik ist doch… Sie hätten den Kaiserschnitt doch auch dort machen können, oder?«
Dr. Daniel nickte. »Ja, aber das wäre für das Baby einem Todesurteil gleichgekommen. Es ist zwar außerhalb des Mutterleibs schon lebensfähig, aber nur auf einer bestens ausgerüsteten Frühgeborenen-Intensivstation. Über die verfügt die Waldsee-Klinik jedoch nicht.«
Rudi senkte den Kopf. »Das Baby.« Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, trotzdem hörte Dr. Daniel den eigenartigen Unterton heraus. Behutsam legte er ihm eine Hand auf die Schulter.
»Ich weiß, wie schmerzlich das für Sie ist, Herr Keller«, meinte er.
Rudi blickte auf. Tränen glitzerten in seinen Augen. »Ich liebe sie.«
»Auch das weiß ich«, entgegnete Dr. Daniel, dann seufzte er leise. »Es tut mir immer weh, meine Patientinnen so unglücklich zu sehen, und noch schlimmer ist es, wenn andere noch zusätzlich mitleiden müssen.«
Unwillkürlich runzelte Rudi die Stirn. »Unglücklich? Aber…« Sein Blick wanderte zu Christina, die noch immer ohne Bewußtsein war. In regelmäßigen Abständen kontrollierte Dr. Daniel Blutdruck und Puls, außerdem die kindlichen Herztöne. Dazwischen fand er tatsächlich noch Zeit, sich mit Rudi auf einfühlsame Weise zu unterhalten.
Jetzt sah er den jungen Mann aufmerksam an. »Sie hat es Ihnen also nicht gesagt.«
Rudi begann die Zusammenhänge langsam zu begreifen. Die Begegnung in der Nähe des Hauses, in dem er wohnte, ihre Zurückhaltung, als er ihr Glück gewünscht hatte, jetzt die Bemerkung von Dr. Daniel. Das alles ließ doch nur einen Schluß zu.
»Er hat sie sitzenlassen.«
Dr. Daniel nickte nur.
In Rudis Herz herrschte totaler Aufruhr. Wenn er das gewußt hätte…