Sophienlust Paket 3 – Familienroman. Patricia Vandenberg
ich etwas unter vier Augen mit dir besprechen möchte, Kai.« Thomas schnürte seinen großen Rucksack auf und holte ein frisches Hemd hervor. Er streifte sich seine alte Gammelkluft vom Leib, wusch sich und trocknete sich ab. Dann zog er sich frisch an.
Kai rührte sich nicht vom Fleck.
»Komm, Kai, zieh dir auch etwas Frisches an.«
Kai sah ihn misstrauisch an. »Sag lieber erst, was du schon wieder an mir auszusetzen hast, Papi. Sonst schmeckt mir das Essen sowieso nicht.«
Thomas musste ein wenig in die Knie gehen, um sich im Spiegel betrachten zu können. Er fuhr sich schnell mit dem Kamm durch sein graumeliertes Haar. »Ich habe lange nichts mehr an dir auszusetzen gehabt, Kai. Seit Dinah nicht mehr lebt …« Er stutzte und sah sich selbst verwundert an. Ja, seit Dinah nicht mehr lebte, hatte sich sein Leben auf angenehme Weise beruhigt. Es gab keinen Streit mehr, keine hysterischen Anfälle, keine Tränen über Nichtigkeiten. Und zu Hause lag Susannchen. Sie würde ihn schon bald wieder lächelnd begrüßen. Ein wirklicher Frieden war in seinem Haus eingekehrt. Und doch fehlte ihm etwas.
»Nun polter schon los, Papi.«
»Ich will gar nicht poltern, Kai. Ich will nur wissen, warum du so dumme Geschichten über die Großstadt erzählst. Hast du es etwa nötig, zu prahlen? Und warum benutzt du solche Ausdrücke aus der Unterwelt? Habe ich dir das vielleicht beigebracht, oder hast du sie in Sophienlust aufgeschnappt?«
Thomas hatte seinen Sohn nicht einmal besonders streng angesehen. Trotzdem lösten seine Fragen bei ihm eine merkwürdige Reaktion aus. Kai warf sich auf die Kissen und begann hemmungslos zu schluchzen. Es war nicht nur die Scham über seine Angeberei. Es war auch die Furcht, Robins Freundschaft zu verlieren. Der Freund konnte ja nun ahnen, dass er ihr gemeinsames Geheimnis verraten hatte.
Thomas setzte sich zu Kai und fuhr ihm beruhigend über die Schulter. Was war eigentlich geschehen? Sein Sohn hatte geprahlt und übertrieben wie jeder Junge in seinem Alter. Aber warum weinte er so?
»Wenn du mir etwas erzählen musst, Kai, dann tue es jetzt. Wir sind allein. Du weißt, ich werde nicht schimpfen, wenn du ehrlich bist.«
Kai richtete sich auf und schlang die Arme um seinen Vater. »Versprichst du es mir, Papi? Wirst du es keinem verraten? Auch nicht Frau Wirthner?«
»Nein, auch nicht Frau Wirthner.«
Da berichtete Kai von der Nacht, die er mit Robin in der Tranzgasse verbracht hatte. Er ließ keine Kleinigkeit aus und bemühte sich, nicht zu übertreiben.
»Wegen dieses Peter Knoll darf Robin auch nicht wieder nach Hause, Papi. Nur wegen dieses Idioten kann er nicht zu seiner Mutter. Sie liebt diesen Schurken.«
Thomas war blass geworden. Er wandte seinen Kopf ab und sah zum Fenster hinaus. Nur seine schmale Hand berührte seinen Sohn immer noch. Es war, als brauche er plötzlich ebenso viel Trost wie Kai.
*
Es war ein einsames Wochenende für Barbara gewesen. Sie hatte sich eine Menge Arbeit mit nach Hause genommen und zwei Tage unentwegt darüber gesessen. Sie brauchte Geld. Wenn sie Glück hatte, würde sie in einem Jahr den Schuldenberg abgetragen haben, den Peter Knoll ihr aufgeladen hatte.
Müde und abgespannt blickte sie am Sonntagabend auf ihren Arbeitstisch, wo sich Schnitte, Fotos und Stoffmuster stapelten. Sie hatte Robins Aquarium in ihrem Zimmer aufgebaut. Die stummen Fische waren ihre einzige Gesellschaft, aber wenn sie sie länger betrachtete, überkam sie eine heftige Sehnsucht nach ihrem Sohn. Sie wusste ihn in guter Obhut. Die knappe Woche mit Thomas Platen musste für den vaterlosen Jungen eine ganz neue herrliche Erfahrung gewesen sein.
Barbara biss auf ihren Stift. Sie hätte gern an dieser Radtour teilgenommen, aber ihr Herz wäre in Thomas’ Gegenwart in Verwirrung geraten, hatte sie vielleicht in Situationen gebracht, denen ihre Nerven nicht gewachsen gewesen wären.
Es klingelte. Langsam erhob sich Barbara. Eine ihrer Kolleginnen hatte versprochen, vorbeizukommmen und etwas abzuholen.
Während Barbara zur Tür schritt, brachte sie ihre violette Bluse in Ordnung, die ihr zuweilen aus dem Hosenbund herausrutschte. Sie ging so in ihrer Arbeit auf, dass es ihr ganz egal war, wie sie zu Hause aussah.
Als sie die Tür öffnete, stand Thomas Platen vor ihr. Unwillkürlich wich sie einen Schritt zurück, bevor sie ihn hereinbat. Kais Vater sah erholt aus. Er war von der Sonne gebräunt. Sein sommerliches Hemd stand offen, und der ganze legere Aufzug ließ ihn jungenhaft wirken.
»Ich komme gerade aus Sophienlust«, erzählte er. »Haben Sie einen Kaffee für mich?«
»Natürlich«, stammelte sie verwirrt.
In ihrer hübschen Küche setzte er sich sogleich auf einen Stuhl und erbot sich, den Kaffee zu mahlen. Dabei erzählte er ihr von den herrlichen Tagen, die er zusammen mit den drei Jungen und dem großen Hund Barri verbracht hatte.
Während Barbara das Wasser aufsetzte, Tassen und ein Kännchen Sahne auf ein Tablett stellte, fiel ihr Herz wieder in den normalen gemäßigten Rhythmus zurück. Es war ihr, als würde sie ein alter Freund besuchen, der sie und ihr Leben so gut kannte, dass sie ihm nichts vormachen konnte. Barbara fühlte sich glücklich, wusste aber auch, dass sie das nicht zeigen durfte.
»Waren Sie etwa die zwei herrlichen Tage ganz allein?«, fragte Thomas und nahm ihr das Tablett aus den Händen. »Ist Ihr Freund Peter Knoll wieder verreist?«
»Ja.«
»Was tut er auf seinen Reisen?«, wollte Thomas wissen.
Barbara bot ihm einen Sessel in ihrem Wohnzimmer an und schenkte ihm seine Tasse voll. Was bedeuteten seine merkwürdigen Fragen? Sie entschloss sich, nicht darauf einzugehen. Die ewige Lügerei führte ja doch zu nichts.
»Wir haben uns getrennt, Herr Platen.«
»Wie vernünftig von Ihnen, Barbara.«
Sie war so perplex, dass die Milch ihre Tasse zum Überlaufen brachte.
»Bestimmt hat Robin über Peter Knoll geschimpft, nicht wahr?« Sie sah ihm gerade in die Augen. »Er konnte ihn nie so recht leiden.«
Langsam schüttelte Thomas den Kopf. »Nein, Barbara. Robin hat kein Wort über Sie und Peter Knoll verlauten lassen.«
»Und warum sind Sie dann so erleichtert, dass ich mich von ihm getrennt habe?« Sie nestelte nervös an der langen Kette, die ihren Ausschnitt schmückte. Sie hatte sie umgelegt, um für ihren arbeitsreichen Sonntag einen kleinen feierlichen Anstrich zu bekommen. Jetzt erschien ihr dieser Schmuck ziemlich albern.
»Weil Robin dann zu Ihnen zurückkehren kann und Kai sich nicht von ihm trennen muss. Außerdem war Peter Knoll nicht der richtige Umgang für Sie.«
»Was soll das, Thomas?« Sie war so empört, dass sie ihn beim Vornamen nannte. »Was wissen Sie von Peter Knoll?«
»Gar nichts.« Nun log auch er. Dabei trank er seelenruhig seinen heißen Kaffee. Auf der Heimfahrt von Sophienlust hatte er sich entschlossen, zwischen Barbara und ihren finsteren Freund einen Keil zu treiben. Um so zufriedener war er nun, dass Barbara das Verhältnis bereits gelöst hatte. Es machte ihn so fröhlich, dass er sie fast spitzbübisch angrinste.
Barbara war aufgebracht. »Sie haben mir nachspioniert, Thomas.« Wütend erhob sie sich und fuchtelte wie wild mit ihren eleganten Händen in der Luft herum. »Sie haben etwas in Erfahrung gebracht, was nur mich angeht. Und wenn Sie so heimtückisch lächeln, beweist das nur, wie schadenfroh Sie sind. Dabei habe ich mich nicht beschwert über das, was mir geschehen ist. Ich werde die Sache ganz allein in Ordnung bringen. Schon in einem Jahr bin ich die Schulden los, und dann kann auch Robin wieder bei mir leben, wenn ich wieder weniger arbeite.«
Thomas Platen sah Barbara verständnislos an. Er war ernst geworden. Seine klugen Augen drückten jetzt plötzlich Reue darüber aus, dass er sich mit ein paar vage hingeworfenen Bemerkungen in ihr Privatleben eingeschlichen und sie zu diesem Ausbruch verleitet hatte.
»Wie