Die Brücke nach Ispahan. Wilhelm Ernst Asbeck
Wie von Furien getrieben, bin ich hier angekommen; schreckliche Traumbilder rauben mir den Schlaf. Erwache ich, so glaube ich aus dem Dunkel der Nacht die entstellten Gesichter verhungerter, erschlagener und verbrannter Menschen auf mich gerichtet zu sehen; drohende Fäuste strecken sich mir entgegen. – Es muss ein Ende haben, ich ertrage es nicht länger!“
Stöhnend vergrub er sein Haupt in den Armen. Sanft fühlte er die Hand seiner Frau über sein Haar gleiten. Eine Weile verging. Endlich ergriff Elisabeth das Wort: „Otto! Otto, du kannst dich nicht von gewissen Eindrücken zu Boden schmettern lassen; du darfst deiner grossen Idee nicht untreu werden! Gewaltige Werke erfordern ungeheure Opfer an Gut und Blut. Bedenke, durch wieviel Blut und Trümmer die Eroberer aller Zeiten gingen; die Nachwelt aber setzte ihnen Denkmäler und nannte sie die Grossen.“
Müde richtete Brüggemann den Blick auf sein Weib. Er entgegnete: „Ob der Ruhm der Nachwelt die Verwünschungen der Gegenwart aufgewogen hat? Ich weiss es nicht. Und schaust du rückwärts, was ist aus all ihrem Länderraub geworden? Oft hatten sie kaum die Augen geschlossen, und schon brach ihr stolzes Gebäude zusammen. Wo sind all die grossen Reiche der Eroberer geblieben? In Schutt und Asche verfallen. Nein, nicht ‚die Grossen‘, sondern ‚die Friedensstörer‘, ‚die Henker ihrer Mitmenschen‘ sollte man sie heissen! Mit Hass und Verachtung müsste ihr Name genannt werden!“
„Otto, glaubst du wirklich die Worte, die du da sprichst?“
„Ja, die glaube ich!“
„Früher dachtest du anders!“
„Ehemals schwatzte ich nach, was mich gelehrt wurde; jetzt aber habe ich mit eigenen Augen gesehen, und das Licht der Erkenntnis ist mir aufgegangen!“
„Nein, die Verwirrung ist über dich gekommen! Bist du denn verantwortlich für das, was der Herzog tut?“
„Ja, denn es geschieht, um meine Pläne auszuführen!“
„Dann müsstest du dich ja auch verantwortlich fühlen für all das Grauen, das Dänen, Wallensteiner und Schweden in Dithmarschen und Friesland anstiften.“
„So ist es auch; denn ohne mich ständen heute Friedrichs Heere wie eine schützende Mauer an den Grenzen seines Landes.“
„Und du glaubst, Wallenstein, Christian, Oxenstjerna würden davor zurückschrecken? Nein! Blutige, grausame Schlachten hätten dann stattgefunden, und wehe, wenn die holsteinischen Truppen geschlagen worden wären; dann würde ein bei weitem schlimmeres Unheil über die Bevölkerung gekommen sein! – Otto, begreife doch, wir Menschen können das Schicksal nicht aufhalten; weil wir Werkzeuge geheimer, unsichtbarer Mächte sind. Wir haben die Berufung, die wir in uns fühlen, restlos zu erfüllen! Alle Grossen handelten aus diesem Berufensein, aus diesem unerforschlichen, geheimnisvollen Zwang heraus. Nichts Gewaltiges, nichts Überragendes wäre auf Erden vollbracht, wenn sie sich von Gefühlen des Mitleides, der Rücksichtnahme und der sogenannten irdischen Gerechtigkeit hätten leiten lassen! Würden sie aber nach diesen Grundsätzen gehandelt haben, wie sähe dann heute die Welt aus?“
Brüggemann entgegnete bitter: „Jedenfalls nicht schlimmer als jetzt, wo unter Missbrauch des Namens unseres Heilandes Mord und Totschlag die Stunde beherrschen!“
„Wahrscheinlich aber auch nicht besser; denn dann könnte die Mittelmässigkeit und die unbeherrschte Masse des Volkes regieren. Man würde sich selbst zerfleischen im Kampf aller gegen alle, ohne jedoch etwas Grosses und Unvergängliches zu schaffen! Otto! Otto! Fühltest du dich nicht von dem Gedanken an deine Berufung wie von einem heiligen Feuer erfüllt? Und diese göttliche Flamme soll plötzlich verlöschen? Du, dessen Namen mit ehernem Griffel in die Geschichte der Menschheit eingezeichnet stehen soll, willst dein Werk verleugnen? Möchtest untertauchen in die namenlose Herde der Millionen und aber Millionen Alltagsmenschen? Willst du deinen Gott und dein Ziel verraten?“
Sie hielt ihren Mann bei den Schultern gefasst und rüttelte ihn, als wolle sie ihn aus schwerem Traum erwecken. Grösser und schöner als sonst erschien die Frau, aus deren Augen Begeisterung und Glaube an die Berufung ihres Gatten zu einem gewaltigen Werk leuchtete: „Liebster, stolz blickte ich auf dich, der du dem Hohn und Unglauben deiner Umwelt das felsenfeste Vertrauen zu dir selbst entgegenstelltest. Lass’ dir diese Zuversicht nicht rauben! Geh’ unbeirrt deinen Weg; dann wirst du wie ein Fürst an den Höfen mächtiger Könige und Kaiser einziehen, kannst ohne Blutvergiessen Länder erobern und die Wunden, die du ihnen heute, ohne es zu wollen, schlägst, werden durch die Wohltaten, die ihnen aus deinem Werk erwachsen, tausendfach vergolten sein! Nein, Otto, kein Hass und kein Fluch soll auf deinem Namen lasten, sondern der Dank und Segen unzähliger Menschen wird dich bis an dein Lebensende begleiten, wenn – ja, wenn du dir selbst treu bleibst und den dir vom Schicksal vorgeschriebenen Weg zu Ende gehst!“
Die Wangen der Frau glühten vor Erregung.
Brüggemann hatte sich erhoben. Er schien an den Worten Elisabeths sich emporzurichten; voll Liebe ud Bewunderung ruhten seine Augen auf ihr. Er ergriff ihre Hand und drückte ihr einen heissen Kuss auf die Lippen. –
In dieser Stunde hatte der Kaufherr sich zu sich selbst zurückgefunden.
Ispahan, die Hölle im Paradies
Johann Rudolf Stadler hatte im Sommer 1626 Lübeck bei herrlichstem Wetter verlassen. Glatt wie ein Spiegel lag die Ostsee ausgebreitet; ein sanfter Wind trieb das Schiff gemächlich seinem Ziel entgegen.
Eines schönen Morgens fuhr der Segler in die breite Revalsche Bucht hinein. Ein malerischer Anblick bot sich den Blicken der Reisenden. Alte Stadtwälle mit Mauertürmen tauchten auf, dahinter ein Gewirr von spitzen Giebeln. Wie gewaltige Riesen wuchsen aus engen, winkligen Gassen hervor der schon damals fünfhundert Jahre zählende St. Olai-Dom, dessen hundertfünfzig Meter hoher Turm das weithin sichtbare Zeichen Revals bildete, und der prächtige, im gotischen Stil gehaltene Bau der alten Nicolaikirche. Über diesem unteren Stadtteil erhoben sich, auf einer felsigen Anhöhe am Schlossberg gelegen, die altehrwürdige Domkirche, die Burg, das Ritterhaus und die vielen prächtigen Bauten des Adels und einiger reicher Kaufherren.
Aus der Hansastadt Reval war einst ein junger Uhrmacher Tullae in die Fremde gewandert und hatte in Hamburg eine neue Heimat gefunden. Er wurde dort der Begründer eines neuen Geschlechtes dieses Namens. Jedoch vom Vater auf den Sohn vererbte sich die Anhänglichkeit an den Ort ihrer Herkunft; jeder von ihnen war wenigstens einmal im Leben dorthin gefahren. So blieben die Verwandten in Estland und im fernen Deutschland weit über ein Jahrhundert durch freundschaftliche Beziehungen verbunden. Doch jetzt schien die Zeit gekommen, wo der stolze Name dieses alten, berühmten Uhrmachergeschlechtes auch in Reval ausstarb. Der letzte Tullae daselbst war ein hochbetagter Mann, dessen Ehe nur drei Töchter entstammten. Sie waren sämtlich glücklich verheiratet. Seine Schwiegersöhne, der Ratsherr Johann Fonnen, der Ältermann und Kaufherr Heinrich Niehusen und der Gutsbesitzer Johann Müller, zählten zu den angesehensten Leuten des Landes.
Der alte Tullae staunte nicht wenig, als Stadler und Operchi in seine Werkstatt traten und ihm Grüsse aus Hamburg übermittelten. Er hiess beide herzlich willkommen, besonders zu dem jungen Stadler fühlte er sich hingezogen. Er beneidete seinen Vetter, dem es vergönnt war, in seinem künftigen Tochtermann einen so ausserordentlich geschickten Nachfolger seines Gewerbes zu besitzen, wohingegen sein Unternehmen nach seinem Ableben in fremde Hände übergehen würde.
Während der Perser mit dem Kaufherrn Niehusen Handelsverbindungen anknüpfte, lebten die beiden Uhrmacher ausschliesslich ihrer Kunst. Der alte Herr führte seinen Gast zur Petrikirche. Mit dem Glockenschlag zwölf trat aus der Uhr ein kunstvoll geschnitzter Totentanz hervor. Tullae sprach: „Ist es nicht wunderbar zu denken, dass der Hersteller dieses Werkes schon vierhundert Jahre unter der Erde liegt, seine Schöpfung aber weiter lebt und noch Jahrhunderte überdauern wird?“
Ein heisses Sehnen ergriff den Gefragten, auch eine Arbeit zu vollbringen, die seinen Namen unsterblich machte. Dieser Gedanke liess ihn nicht mehr frei. Unvergänglichen Ruhm wollte er erringen. –
Die ganze weitverzweigte Verwandtschaft Tullaes wetteiferte darin, die beiden Fremden bestens aufzunehmen. Im Hause des Ratsherrn Fonnen fanden rauschende