Nell Gwyn. Charles Beauclerk
bekannt war. (Wer »eine Austernfrau taub schwätzen konnte«, dessen Redefluss war nicht zu stoppen, der sprudelte wie ein Wasserfall, oder aber, wie wir in England sagen, »er quatschte dem Esel die Hinterbeine ab«.)
London erwachte mit den lauten Rufen der Händler, die ihre Karren über das Kopfsteinpflaster zogen und dabei ihre Waren ausschrien. Man brauchte schon eine laute Stimme, um sich in der allgemeinen Kakophonie Gehör zu verschaffen, und Nell war für diese frühe Übung ganz gewiss dankbar, als sie später zum Theater stieß, denn nicht nur hatte sie gelernt, ihre Stimme über die der anderen zu erheben, sondern verstand sich auch auf die Kunst, sich mit ihrem munteren Singsang in die Ohren einzuschmeicheln.
Acht Heringe für ’nen Groschen!
Pastetchen und heiße Dorsche!
Und, meiner Seele, auch Makrele!
Wellsfleet-Austern! Holla-ho!
Und frischer Weißfisch sowieso!2
Auch Rose verdiente sich ihren Lebensunterhalt als Straßenhändlerin, und man mag sich wohl vorstellen, wie die beiden Schwestern, jede auf ihrer Straßenseite, versuchten, sich gegenseitig zu übertrumpfen. Nach getaner Arbeit ist Nell dann vielleicht hinunter in den St. James Park gehüpft, um zu sehen, ob sie nicht einen Blick auf den König erhaschen kann, der dort die Enten fütterte oder seine Spaniels spazieren führt. Alles war recht, um den schmutzigen Gassen zu entfliehen und ihre Träume von einem angenehmeren Leben zu nähren.
Der Verfasser von »A Satyr« (1677) behauptet, Nell habe ihren Fischstand aufgegeben und sei lieber eines von Madam Ross’ Mädchen geworden.
Für zehn Heringe, wenn sie genug geplärrt,
hat man ihr einen Groschen verehrt;
dann brachte sie Madam Ross auf Trab,
das warf eine halbe Krone ab.
Der neue Geist der Freizügigkeit, der jetzt in der Hauptstadt wehte, lockte ganz gewiss viele Mädchen vom Lande an, die sich der neuen Generation von Freiern anboten, und nicht wenige von ihnen fielen Madam Ross und ihresgleichen in die Hände. Ob es nun Pfeife rauchende und Schnaps kippende Damen waren wie Mrs Gwyn oder Madam Ross, oder aber der geschicktere, raffiniertere Typ von Kupplerin, wie Mother Cresswell, von der es hieß, sie halte stets einige hübsche Mädchen für den anspruchsvolleren Geschmack parat, es lässt sich nicht leugnen, dass diese skrupellosen Frauenzimmer häufig junge Mädchen kauften, entführten oder auf andere Art in ihre Fänge brachten, um sie dann zu Prostituierten zu machen. Sie alle verfügten in der ganzen Stadt über Verbindungsleute, die nach neuer Ware Ausschau hielten. Es war eine trostlose Laufbahn, die angesichts des hohen Risikos, schwanger oder krank zu werden, durchaus in Elend und Tod enden konnte.
In den frühen 1660er Jahren war fast jede zehnte Frau in London eine Prostituierte, ein wirklich erschreckender Prozentsatz. Prostituierte gehörten zum normalen Straßenbild und stellten für junge berufstätige Leute wie Pepys eine schlimme Versuchung dar. Auf dem Weg zu einem Arbeitstreffen im März 1665 scheint er nahe daran gewesen sein, schwach zu werden. »Auf unserem Weg fuhr die Kutsche durch eine Gasse in der Nähe der Drury Lane, wo eine große Zahl loser Frauenzimmer in den Türen standen, was, Gott möge mir vergeben, mich zu unkeuschen Gedanken verleitete, doch, Gott sei es gedankt, nicht darüber hinausging. Auf nach Hause ...« Für viele der Mädchen war es eine Chance, ihr Los zu verbessern, wenn sie die Geliebte eines Gentleman wurden. Und aus diesem Grund war der Prostitutionsmarkt der große Schmelztiegel jener Zeit und eine der wenigen Möglichkeiten für Frauen, auf der gesellschaftlichen Leiter aufzusteigen. Männern von niederer Herkunft hingegen standen nicht dieselben Möglichkeiten offen, wohlhabende Frauen kennenzulernen oder zu deren Liebhabern zu avancieren. So ist es durchaus denkbar, dass die Aversionen der Lehrlinge gegen die Bordelle etwas damit zu tun hatten, dass sie in diesen Etablissements Einrichtungen sahen, durch die begehrenswerte Mädchen von gleicher Herkunft wie sie ihrem Zugriff entzogen wurden.
Es war bekannt, dass selbst Charles manchmal »den König ablegte« und incognito die Londoner Bordelle aufsuchte. Damit befriedigte er vermutlich seine Vorliebe für Gefahren ebenso wie seinen Tatendrang, denn eigentlich stellten diese Eskapaden ein unnötiges Risiko dar. Seine Körpergröße und sein dunkles Aussehen verrieten ihn auch in der besten Verkleidung, und außerdem freute es Mrs Chiffinch doch immer sehr, wenn sie durch Mother Cresswell und deren Genossinnen Mädchen für den König nach Whitehall (und die Hintertreppen hinauf) schicken lassen konnte. Angesichts dessen aber, was wir über die Vorlieben des Königs wissen, ist es nicht unvorstellbar, dass Charles auch gelegentlich Gast in Madam Ross’ Etablissement gewesen ist. Zumindest wissen wir, dass sein Freund, der Earl von Rochester, zu ihren Kunden zählte. Wenn das zutrifft, ist es möglich, dass Nell dem König zum ersten Mal auf einem seiner Streifzüge durch die Londoner Unterwelt begegnet ist, und das schon lange vor ihrer Karriere als Schauspielerin.
Das mag eine Erklärung dafür sein, warum Nell so überaus bestürzt reagierte (zumindest erzählte man sich das),3 als der König im Mai 1662 seine portugiesische Braut Katharina von Braganza heiratete. Sie war offensichtlich so bestürzt, dass sie sich einen Liebhaber namens Duncan oder Dungan zulegte, einen der Stammkunden bei Madam Ross. Von dem Verleger und Antiquar William Oldys (1696–1761) jedenfalls wissen wir, dass »ein gewisser Mr Duncan, ein Kaufmann, dem es ihr Mutterwitz, ihre hübsche Gestalt und die kleinen Füßchen, wahrscheinlich die zierlichsten in ganz England, angetan hatten, sie zwei Jahre lang aushielt«. Diese Affäre wird auch in der zeitgenössischen Satire »The Lady of Pleasure« thematisiert und mit Obszönitäten pikant gewürzt. Dort wird Duncan als ein »stadtbekannter Typ« bezeichnet, und es wird kolportiert, dass Nell ihm als Gegenleistung für feine Kleider und ein angenehmes Leben ihre Jugend, ihren Witz und ihre Unschuld schenkte. Wir erfahren, dass Duncan als erster die Lust an der Beziehung verlor (»Was nützt’ ihm all sein Geld, was nützt’ ihm noch sein P ... el, auf Dauer machte Nell ihn krank, den schlaffen Lümmel«), doch als eine letzte Geste der Zuneigung verschaffte er ihr den Zugang zum Theater, wahrscheinlich als Orangenverkäuferin. Wenn wir dem Verfasser von »Mrs Nelly’s Complaint« Glauben schenken dürfen, hat Nell sich später dafür revanchiert und ihm einen Auftrag für die Armee verschafft: »Weil er es mir so gut besorgt in jenen alten Tagen, darf Duncan nun auf meinen Wink zum Wohl des Heeres mit beitragen.«
Duncan hatte es Nell zu verdanken, dass sie die drückende Atmosphäre der Coal Yard Alley verlassen konnte und stattdessen in Räumen leben durfte, die er für sie in der Cock-and-Pie-Schenke angemietet hatte, am oberen Ende der Maypole Alley, nur einen Steinwurf entfernt von der Stelle, an der Killigrew zwischen Bridges Street und Drury Lane sein neues Theater errichtete. Sie konnte zwar nicht lesen und schreiben, doch von dem vor ihrer Schwelle entstehenden neuen Theater muss eine große Faszination auf ein Mädchen ihres Temperaments und ihrer Vorstellungskraft ausgegangen sein. Sie lernte rasch, sich ihres weiblichen Charmes und ihres hellen Verstandes zu bedienen, um andere zu betören. Plötzlich öffnete sich ihr die Welt.
Genau wie die Prostitution bot auch das Theater Frauen aus bescheidenen oder niedrigen Verhältnissen eine gewisse Möglichkeit des gesellschaftlichen Aufstiegs. Es konnte ihnen unter Umständen sogar den Zugang zum Hofe eröffnen. Denn viele der Höflinge, die das Theater regelmäßig besuchten, fanden den Flirt mit den Schauspielerinnen hinter der Bühne zumindest ebenso interessant wie das unterhaltsame Geschehen auf der Bühne. Unverheiratete Frauen waren für die Avancen männlicher Galane nach der Aufführung stets empfänglich. Wie der Skribent Tom Brown es ausdrückte: »Es ist schwer für eine hübsche Frau, sich in einem Theater ihre Anständigkeit zu bewahren, so wie es auch für einen Apotheker nicht leicht ist, seinen Sirup an heißen Tagen vor den Fliegen zu schützen, denn jeder Libertin im Publikum umschwirrt unweigerlich ihren Honigtopf.«4
In den Jahren der puritanischen Herrschaft galten Schauspieler als eine Bedrohung für die Öffentlichkeit, und ihr Status war nicht höher als der von Landstreichern. Anfang 1647 hatte das Lange Parlament in einem Erlass verfügt, dass »alle Bühnen, Zuschauerplätze und Logen auf Geheiß von zwei Friedensrichtern abzureißen [sind]. Jeder, der in Zukunft Stücke aufführt, wird ausgepeitscht, und wer sich Theaterstücke anschaut, hat für jeden solchen Verstoß fünf Schilling Strafe zu entrichten«. Da verwundert es kaum, dass Charles II. bei seiner