Unsichtbare Architektur. Inge Podbrecky
attestierte.203
Die Dollfußdenkmäler
Am 25. Juli 1934 wurde Bundeskanzler Dollfuß während eines Putschversuchs der Nationalsozialisten im Bundeskanzleramt ermordet. Dadurch rückte er sofort ins Zentrum einer umfassenden Sakralisierung, die ihren Niederschlag in der Errichtung unzähliger Denkmäler, Gedenksteine und -kreuze, Kapellen, Gedenktafeln, Figuren und Ähnliches in ganz Österreich, in Umbenennungen von Straßen und Plätzen und in der Weihe vieler, auch neu errichteter Kirchen an seinen katholischen Namenspatron fand.204 Nach dem Tod des Kanzlers wurden im Ecksalon im Bundeskanzleramt ein Ewiges Licht, ein Porträtfoto und eine Mater-Dolorosa-Büste aufgestellt. Zunächst wurde im Bundeskanzleramt, unterhalb des Sterbezimmers, eine Gedenktafel angebracht.205 Bereits vier Tage nach dem Tod des Kanzlers schlug der Architekt Fritz Neumeier ein Dollfuß-Seipel-Denkmal am Ballhausplatz vor.
Das Begräbnis des Kanzlers legte wichtige Parameter der nachfolgenden Heldenverehrung fest. Dollfuß wurde zunächst in der Volkshalle des Rathauses aufgebahrt, dann über die habsburgisch und luegerisch konnotierte Ringstraße zum Stephansdom, einem weiteren nationalen Identifikationsort, gebracht und im Familiengrab am Hietzinger Friedhof bestattet.206 Als die von Dollfuß selbst noch mitinitiierte Grablege für den 1932 verstorbenen christlichsozialen Bundeskanzlers Ignaz Seipel nach einer Umplanung als Doppelgrabstätte für Seipel und Dollfuß fertig geworden war, wurden beide Kanzler exhumiert und in einem aufwändigen nächtlichen Spektakel in der Kirche beigesetzt, so dass die Genealogisierung Seipel – Dollfuß als Teil des Mythos in der Denkmalkirche sichtbar gemacht werden konnte (zur „Seipel-Dollfuß-Kirche“, eigentlich Pfarrkirche Neufünfhaus, siehe Seite 94 ff.). In einem Raum bei der Grabeskirche wurde das Sofa, auf dem der Kanzler verblutet war, wie eine Reliquie gezeigt.207 Diese Verehrung hat eine Parallele in jener der nationalsozialistischen „Blutfahne“, die das Blut der beim Münchner Putschversuch 1923 getöteten Nationalsozialisten aufgenommen hatte. Die „Märtyrer der Bewegung“ wurden in den Tempelbauten am Münchner Königsplatz in einem quasiliturgischen Ritual verehrt.208
Nach Dollfuß’ Ermordung setzte umgehend ein umfassender propagandistischer Personenkult um den „Märtyrer“ und „Heldenkanzler“ Dollfuß ein, den Lucile Dreidemy 2012 in ihrem Buch ausführlich thematisiert hat. Anweisungen zur Gestaltung von Gedenkfeiern wurden herausgegeben, Büsten, Porträts, Bilder, Reliefs, Denkmäler, Brunnen, Dollfuß-Kreuze etc. überschwemmten das Land. Anweisungen zur Abhaltung von Gedenkfeiern wurden dekretiert, der Todestag zum nationalen Trauertag erklärt, und Straßen und Plätze wurden nach Dollfuß benannt. Eine Reihe von Dollfußkirchen und -kapellen wurde errichtet und dem Patron des Kanzlers, dem hl. Engelbert geweiht (zum Beispiel auf der Hohen Wand, in Feistritz bei Groß-Siegharts, am Hochschwab, in Velden, Jois etc.). St.-Engelbert-Denkmäler entstanden auf der Wiener Höhenstraße, an der Gesäusestraße, und auf dem Großglockner. Beliebt waren auch die Dollfußkreuze (Packstraße, Bisamberg, St. Pölten, Klagenfurt, Maria Luggau, Eisenstadt etc.).209 Dollfußkerzen, -lieder (vor allem das „Jugendlied“: „Ihr Jungen, schließt die Reihen gut / Ein Toter führt uns an“) und -gedichte vervollständigten das kultische Instrumentarium.
Ein erstes Dollfußdenkmal war bereits zu Lebzeiten des Kanzlers für die Marienkapelle in der Michaelerkirche initiiert worden. Die Michaelerkirche gegenüber der Hofburg war die Heimatpfarrkirche der Familie Dollfuß, aber auch die ehemalige Hofpfarrkirche der Habsburger.210 Anlass war ein Attentat auf Dollfuß im Parlament am 3. Oktober 1933, als er vom Nationalsozialisten Rudolf Dertil angeschossen und leicht verletzt wurde.
Abbildung 34: Michaelerkirche, Hans Schwathe, Denkmal für Engelbert Dollfuß
Das Relief zeigt Dollfuß als Betenden, in einer intim-versunkenen Geste, die seine Gläubigkeit betont (Abbildung 34). Die Darstellung, die an einen Adoranten oder Stifter erinnert, erscheint wie ein Ausschnitt aus einem spätmittelalterlichen Altarbild und nimmt damit die spätere Sakralisierung des Kanzlers vorweg. Die Übertragung lebender Personen in Altarbilder, Sacre conversazioni etc. ist bereits von Karl Lueger her bekannt: Der Bürgermeister wurde zum Beispiel im Altarbild der Lainzer Versorgungshauskirche als Stifter dargestellt. Das Dollfußrelief wurde in der Kapelle zu der ebenfalls von Hans Schwathe gestalteten Altarwand in Beziehung gesetzt, die eine Madonnenfigur in einer expressionistisch gestalteten Mandorla und mit der Inschrift: „Unbefleckte Jungfrau, bitte für Österreich“ enthält. Die Kapelle wurde erst nach Dollfuß’ Tod fertiggestellt und konsekriert.211
Aspekte der Kanzlerverehrung reichten von politischen Genealogien (Lueger, Seipel) über den Helden und kaiserlichen Soldaten, die Identifizierung mit Christus, Christkönig und dem hl. Engelbert, das Bauernkind als „Sohn der Scholle“ bis hin zum „Führer mit menschlichem Antlitz“, der auf Fotos und Grafiken – anders als der unnahbar erscheinende Schuschnigg – gerne mit einem liebenswürdigen Lächeln abgebildet wurde. Lucile Dreidemy hat darauf hingewiesen, dass ein wesentliches Merkmal des Dollfußkults auf Identifikation und Sympathie beruhte und nicht, wie bei Hitler und Mussolini, auf der Evozierung von Furcht.212 Die Bandbreite der Darstellungen entsprach den zahlreichen Facetten der Person Dollfuß, die für einen Denkmalkult wie geschaffen schien.
Die Stadt Klosterneuburg rühmte sich des ersten Dollfußdenkmals nach dessen Tod in Österreich, einer Plakette, die den Kanzler in der Uniform der Kaiserjäger zeigte. Darunter stand zu lesen: „Ich wollte ja nur den Frieden, den anderen möge der Herrgott vergeben“213 – die angeblich letzten Worte des Kanzlers, in deutlicher Anspielung an Christi letzte Worte am Kreuz und angeblich auch die letzten Worte des hl. Engelbert, der ebenfalls von seinen Gegnern ermordet worden war.214
1935 wurde Dollfuß ein Denkmal in Form seines Namenspatrons, eines nie offiziell heiliggesprochenen Kölner Bischofs, gesetzt. An einer Kehre der Wiener Höhenstraße nahe Grinzing, wo Dollfuß 1934 den ersten Spatenstich für sein Prestigeprojekt gemacht hatte, wurde ein Denkmal nach Entwurf von Alexander Popp und Rudolf Schmidt errichtet (Abbildung 35). Popps Steinsockel ist bis heute erhalten (siehe dazu das Kapitel Infrastruktur). Die Figur von Rudolf Schmidt war aus einem stelenförmigen stehenden Steinblock herausgearbeitet und zeigte den mediävalisierend dargestellten Bischof in Art einer Liegegrabfigur,215 allerdings vertikal aufgestellt. Zu seinen Füßen befand sich ein Drache, den der Heilige mit seinem Bischofsstab durchbohrt, ein Attribut, das nicht zur kanonischen Darstellung des hl. Engelbert gehört, das aber viel Assoziationsspielraum gibt: Der den Drachen tötende hl. Georg, die gegenreformatische Madonna, die der Schlange stellvertretend für das Böse den Kopf zertritt, liegen nahe, aber auch die Identifizierung des Drachen mit dem politischen Gegner. Die blockgebundene Form der Skulptur assoziiert passend zum umgebenden Wienerwald Bildstöcke oder Wegkapellen, wie sie im ländlichen Bereich üblich waren. Der erste Bauabschnitt der Straße, zu deren Patron St. Engelbert ernannt wurde, mitsamt dem Denkmal wurde am 16. Oktober 1935 eröffnet.216
Abbildung 35: Alexander Popp/Rudolf Schmidt, Dollfußdenkmal an der Höhenstraße bei der Eröffnung (APA Picture Desk/IMAGNO)
In den Städten wurden einige monumentale Dollfußdenkmäler auf zentralen Plätzen aufgestellt, etwa in St. Pölten und Graz. Das St. Pöltner Denkmal (Abbildung 36) bestand aus einem Stufensockel mit einer hohen, kantigen Stele mit Rechteckgrundriss, an deren Schmalseite eine vergleichsweise kleine Porträtdarstellung angebracht war, so dass der architektonische Denkmalcharakter dominierte. Das Denkmal wurde von Rudolf Wondracek entworfen und ebenso wie das Grazer Dollfußdenkmal bereits am 12. März 1938 abgerissen. Das Grazer Denkmal war ebenfalls eine hohe, schlanke